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Die Steuereinzugskampagne von 1932/331

Mitglieder der Arbeitsgruppen beschlagnahmen verstecktes Getreide
Mitglieder der Arbeitsgruppen
beschlagnahmen verstecktes Getreide

Die Steuereinzugskampagne von 1932 lief nur langsam an. Als die neue Ernte gedroschen wurde, ver-suchten die Kolchose2bauern einen Teil der Ernte zu verstecken oder bei Nacht zu "stehlen".

Es bildete sich eine regelrechte "Front des passiven Widerstandes", unterstützt durch das still-schweigende und gegenseitige Einvernehmen zwischen dem Kol-chosebauern und dem Brigade-führer, zwischen dem Brigade-führer und dem Steuerbeamten, zwischen dem Steuerbeamten und dem Kolchoseleiter, der selbst Bauer war und erst kurz zuvor befördert worden war, zwischen dem Leiter und dem Parteisekretär des Ortsverbandes.

von links: Kaganowitsch, Stalin 1934
Kaganowitsch und Stalin, 1934

Am 11. August 1932 schrieb Stalin an Lasar Moissejewitsch Kaganowitsch, einem seiner engsten Mitarbeiter, dass sich zahlreiche Rayonparteikomitees in der Ukraine gegen den Plan der Getreideablieferung ausgesprochen hätten und der Grund dafür sei, dass es in der KP der Ukraine zahlreiche "verrottete Elemente gäbe", die nur darauf warteten, gegen Moskau loszuschlagen. Weiter heißt es: „Die Lage in der Ukraine ist sehr schlecht, wenn wir jetzt keine Maßnahmen ergreifen, kann es sein, dass wir die Ukraine verlieren“.

Die durch die ukrainische nationale Revolution von 1917-1921 erwachte Ukraine mit ihrer über 1000-jährigen Geschichte, reich an Kultur und Tradition, strebte nach einem unabhängigen Staat. Im Zeitraum von 1920 bis 1930 handelten die ukrainischen Kommunisten zunehmend autonomer und gegen den politischen Willen Moskaus. In den späten 1920er Jahren spürte Stalin, dass die Politik der Ukrainisierung die vom Kreml gesetzten Grenzen überschritt und verlor dadurch für das Sowjetregime zunehmend an Nutzen. Die Ukraine stellte somit eine ernste Gefahr für das Sowjetimperium und dessen geopolitischen Absichten dar. Daraufhin leitete das Stalin-Regime Schritte zum offenen Krieg gegen die Ukrainer als Nation ein, was zu einem noch nie dagewesenen Aktionsplan führen sollte.

Mitte Oktober 1932 war der um jeden Preis einzuhaltende Steuereinzugsplan für die wichtigsten Getreideanbaugebiete des Landes erst zu 15 bis 20 % erfüllt.

Stalin war zu der Überzeugung gekommen, dass der ukrainische Nationalismus Schuld an der unzureichenden Getreideaufbringung war, dass die Ukrainer also gezielt Widerstand gegen die Zentralmacht leisteten und dafür ein für allemal bestraft werden müssten. Alle standen im Verdacht, für mehr Autonomie der Ukraine einzutreten und vielleicht sogar eine Lostrennung von der Sowjetunion anzustreben.

So beschloss das Politbüro am 22. Oktober 1932, zur ''Beschleunigung des Steuereinzugs'', neue "Stoßbrigaden" in die Gebiete zu schicken, die in den Städten aus Komsomol-Mitgliedern und Kommunisten zusammengestellt wurden. Sie hatten den Auftrag, den Widerstand mit allen Mitteln zu brechen. Alle Getreidevorräte auf den Kolchosen sollten beschlagnahmt werden, was mit großer Härte durchgeführt wurde. Unter Drohungen, Folter und Tötung wurden die Landwirte gezwungen, ihre gesamten Vorräte abzuliefern.

die „Stoßbrigade“ tagt in einer Holzhütte und läßt der Reihe nach alle Personen kommen
die „Stoßbrigade“ tagt in einer Holzhütte und
läßt der Reihe nach alle Personen kommen

 „... Die einzige Form der „Arbeit der Massen“ ist der „Sturm“: Man „stürmt“ auf das Saatgut los, auf die Banken, auf die Zuchtbetriebe, auf die Arbeit usw. Nichts geschieht hier ohne „Sturm“. … Nachts wird belagert, von 9 oder 10 Uhr abends bis in den Morgengrauen. Und der „Sturm“ läuft dann folgendermaßen ab: die „Stoßbrigade“ tagt in einer Holzhütte und läßt der Reihe nach alle Personen kommen, die irgendeine Verpflichtung oder irgendeinen Plan nicht erfüllt haben und „überredet“ sie mit verschiedenen Mitteln, ihre Verpflichtungen einzuhalten. Man „belagert“ jeden, der auf der [schwarzen] Liste steht, und dann beginnt alles wieder von vorne, die ganze Nacht....“

aus: Bericht an die Vorgesetzten eines Schulungsleiters des Zentralexekutivkomitees, der in ein Distrikt des Getreideanbaugebiets an der unteren Wolga geschickt wurde.
Beschlagnahme von Getreidevorräten
Beschlagnahme von Getreidevorräte

 „.. Jedermann führt Verhaftungen und Untersuchungen durch: die Mitglieder des Dorfsowjets, alle möglichen Abgesandten, die Mitglieder der Stoßbrigaden und irgendwelche übereifrigen Komsomols. In diesem Jahr haben 12 % der Bauern dieses Distrikts [unteren Wolga] vor dem Gericht gestanden, ohne Berücksichtigung der deportierten Kulaken, der zu Geldstrafen verurteilten Bauern usw. Nach den Schätzungen des ehemaligen Generalstaatsanwalts dieses Distrikts waren im letzten Jahr 15 % der erwachsenen Bevölkerung in irgendeiner Form Opfer von Repressionen. Wenn man außerdem bedenkt, daß im letzten Monat an die 800 Bauern aus den Kolchosen ausgeschlossen wurden, bekommt man eine Ahnung von den Ausmaßen der Repression in diesem Distrikt. …
Abgesehen von den Fällen, in denen eine Repression der Massen wirklich gerechtfertigt ist, muß man sagen, daß die Wirksamkeit der repressiven Maßnahmen ständig abnimmt, denn sobald sie ein gewisses Maß überschreiten, sind sie schwer umzusetzen. …“

aus: Bericht an die Vorgesetzten eines Schulungsleiters des Zentralexekutivkomitees, der in ein Distrikt des Getreideanbaugebiets an der unteren Wolga geschickt wurde.
Getreideeintreibung
Getreideeintreibung:
Zeugen im Hof eines Bauern, die Suche nach verstecktem Getreide in einem der Dörfer im Bezirk Donezk war erfolgreich

„... Um mit dieser wunderbaren Methode, der einzigen, die man hier kennt – der Methode der Gewalt -, zu einem Ende zu kommen, noch ein paar kurze Worte zu den Einzelbauern, bei denen man alles tut, um sie vom Säen und Bepflanzen abzuhalten.
Folgendes Beispiel zeigt deutlich, wie sehr die Einzelbauern terrorisiert werden: In Mortsy hat ein Einzelbauer, der den Plan zu 100 % erfüllt hatte, den Genossen Fomitschew, den Vorsitzenden des Exekutivkomitees dieses Distrikts, aufgesucht und ihn darum gebeten, für seine Deportierung in den Norden zu sorgen, denn wie dem auch sei, so erklärte er, „unter diesen Bedingungen kann man nicht leben.“
Ebenso bezeichnend ist die von 16 Einzelbauern des Dorfsowjets von Alexandrow unterzeichnete Petition, in welcher sie darum bitten, daß man sie aus ihrer Region wegdeportiert! …“

aus: Bericht an die Vorgesetzten eines Schulungsleiters des Zentralexekutivkomitees, der in ein Distrikt des Getreideanbaugebiets an der unteren Wolga geschickt wurde.
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Anmerkungen

1 Quellen:
Viktor Timtschenko: Ukraine: Einblicke in den neuen Osten Europas, Christoph Links Verlag, Berlin, 2009.
Stéphane Courtois und Co-Autoren: Die Große Hungersnot in: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror“, Piper Verlag, München, 2004, S. 178 – 188;
Gerhard Simon: Der Holodomor als Völkermord. Tatsachen und Kontroversen. Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion Referat bei der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“, Mannheim 24. November 2007;

2 Kolchose = Kollektivwirtschaft; Kollektivwirtschaft; genossenschaftlich organisierter landwirtschaftlicher Großbetrieb in der UdSSR. Nach 1917 auf der Grundlage der Freiwilligkeit entstanden, seit 1929 durch (Zwangs-)Kollektivierung bäuerlicher Einzelwirtschaften, in deren Folge Millionen von Bauern deportiert wurden und umkamen (Entkulakisierung).
Der staatseigene Boden wurde den Kolchosen zur Nutzung gegen Pflichtablieferungen zu staatlich fixierten Preisen überlassen, Überschüsse zu freien Preisen auf den sogenannten Kolchosemärkten verkauft.
Die Rolle der Kolchosen waren strategischer Art und sollten dem Staat feste Agrarlieferungen garantieren. Dadurch kam es zu immer größeren Beschneidungen des ''kollektiven'' Ernteertrages. In jedem Herbst führte die Steuereinzugskampagne zu einem regelrechten Machtkampf zwischen dem Staat und der Bauernschaft, die verzweifelt versuchte, einen Teil der Ernte für sich zu behalten. Es ging um Entscheidendes: für den Staat um die Einnahmen, für die Bauern ums Überleben.