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Die Hungersnot von 1932/331

W. M. Molotow (links) und Joseph Stalin
W. M. Molotow (links) und Joseph Stalin

Da sich die Beschwerden der Arbeiter und Bauern in den letzten Jahren häufen, so die Präambel des Beschlusses vom 7. August 1932, sah sich das Zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare der UdSSR "genötigt", das ''Gesetz zum Schutz des sozialistischen Eigentums" zu erlassen.

Folgende Klagen wurden auf-geführt:
1. Diebstahl von Gütern an Eisenbahn- und Wasserkommu-nikationswegen,
2. Diebstahl an Genossenschafts- und Kolchosen2eigentum von umstürz-lerischen und asozialen Elementen und
3. Gewalt und Drohungen von kulakischen3 Elementen, die nicht gewillt sind, aus dem Kolchos auszutreten und ehrlich und selbstlos für die Stärkung des Letzteren zu arbeiten.

A. Jenukidse (links) und M. I. Kalinin
A. Jenukidse (links) und M. I. Kalinin

Kolchoseneigentum wurde zum Staatseigentum erklärt.

 .... öffentliches Eigentum (Staats-, Kolchosen- oder Genossenschafts-eigentum) ist die Grundlage des Sowjetsystems und ist somit heilig und unantastbar. Menschen, die das öffentliche Eigentum antasten, sind als Volksfeinde zu betrachten und der Kampf gegen Veruntreuer des öffentlichen Eigentums ist eine Hauptaufgabe des Sowjetregimes.

Aus diesen Gründen und, um die Nachfragen der Arbeiter und Landwirte zu befriedigen, entscheidet das [Allrussische] Zentrale Exekutiv-komitee4 und der Rat der Volkskommissare5 der UdSSR:

I.

1. Bedeutsame Fracht zu Schiene und Wasser werden dem Staatseigentum gleichgestellt und der Schutz dieser Güter wird auf jede mögliche Weise verstärkt.
2. Verwenden Sie als Maß der gerichtlichen Repressalien für Diebstahl von Eisenbahn- und Wasserkommunikationswaren den höchsten Grad der sozialen Verteidigung - Erschießen mit Beschlagnahme des ganzen Eigentums, das bei mildernden Umständen in eine Freiheitsstrafe von nicht unter zehn Jahren und Beschlagnahme des Eigentums umgewandelt werden kann.
3. Keine Amnestie für verurteilte Verbrecher in Fällen von Diebstahl an Transportwaren.

II.

Joseph Stalin
Joseph Stalin

1. Kolchose- und Genossenschaftseigentum (Feldfrüchte, öffentliche Vorräte, Vieh, kooperative Lagerhäuser, Geschäfte usw.) werden dem Staatseigentum gleichgestellt und der Schutz des Eigentums von widerrechtlicher Aneignung wird auf jede mögliche Weise verstärkt.
2. Verwenden Sie als Maß der gerichtlichen Repressalien für Diebstahl an Kolchosen- und Genossen-schaftseigentum den höchsten Grad der sozialen Verteidigung - Erschießen mit Beschlagnahme des ganzen Eigentums, das bei mildernden Umständen in eine Freiheitsstrafe von nicht unter zehn Jahren und Beschlagnahme des Eigentums umgewandelt werden kann.
3. Keine Amnestie für verurteilte Verbrecher wegen Veruntreuung von Kolchose- und Genossenschaftseigentum.

III.

1. Einen resoluten Kampf den asozialen kulakisch-kapitalistischen Elementen, die unter Benutzung oder Androhung von Gewalt die Kolchosebauern einschüchtern, um sie zu zwingen, aus der Kolchose auszutreten, in der Absicht, die Kolchose gewaltsam zu zerstören. Setzen sie diese Verbrechen mit staatlichen Verbrechen gleich.
2 Verwenden Sie als Maß der gerichtlichen Repressalien zum Schutz der Kolchosen und Bauern vor Gefahr und Gewalt und Androhungen vonseiten der Kulaken und anderer antisozialer Elemente den Grad der Inhaftierung in ein Konzentrationslager von 5 bis 10 Jahren .
3. Keine Amnestie für verurteilte Verbrecher in diesen Fällen.

aus: Beschluss zum Schutz des sozialistischen Eigentums vom 7. August 1932

Unterzeichnet wurde der Beschluss von Michail Iwanowitsch Kalinin, Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR (formelles Staatsoberhaupt der Sowjetunion von 1923–1946), Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare (Regierungschef der Sowjetunion von 1930 bis 1941) und Abel Jenukidse, Vorsitzender des Präsidiums des Zentralkomitees der KPdSU von 1918 bis 1935.

Denkmal für die Opfer des Holodomor in Obuchiw in der Zentralukraine
Denkmal für die Opfer des Holodomor
in Obuchiw in der Zentralukraine
(symbolisch hält das Kind einige Ähren in der Hand)

Das ''Gesetz zum Schutz des sozialistischen Eigentums", wurde im Volksmund ''Ährengesetz'' oder "Gesetz der drei (fünf) Ährchen" genannt, weil die meisten der nach diesem Gesetz Verurteilten (Frauen, Männer, Kinder) nur einige Weizen- oder Roggenähren am Feldrain oder auf dem Feldweg aufgesammelt hatten und zu massenhaften Verhaftungen mit allen oben beschriebenen Konse-quenzen führte.

Von August 1932 bis Dezember 1933 wurden mehr als 125.000 Menschen nach diesem Gesetz verurteilt, davon 5.400 zur Höchststrafe: Erschießen.

Zehn Jahre Freiheitsentzug gab es nicht nur wegen "Diebstahls" von Kolchoseneigentum, sondern auch wenn z. B. jemand Kolchosepferde für persönliche Reisen nutzte oder wenn durch Unachtsamkeit einem Kolchospferd ein Auge beschädigt wurde.

Das ''Gesetz zum Schutz des sozialistischen Eigentums" und weitere Maßnahmen waren der Auslöser der Hungerkatastrophe (Holodomor) von 1932/33.
Die sorgfätige Verheimlichung von Mitteilungen darüber, führte dazu, dass in den nicht betroffenen Kreisen die meisten Menschen nichts vom wirklichen Ausmaß wussten.

Holodomor-Denkmal in Kiew aus dem Jahr 1993
Holodomor-Denkmal in Kiew aus dem Jahr 1993
(Die Ausstellungstafeln im Hintergrund erzählen die Geschichte des Holodomors rein auf die Ukraine beschränkt)
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Anmerkungen

1 Quellen: Gerhard Simon: Der Holodomor als Völkermord. Tatsachen und Kontroversen. Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion Referat bei der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“, Mannheim 24. November 2007;
Viktor Timtschenko: Ukraine: Einblicke in den neuen Osten Europas, Christoph Links Verlag, Berlin, 2009.
Stéphane Courtois und Co-Autoren: Die Große Hungersnot in: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror“, Piper Verlag, München, 2004, S. 178 – 188;

2 Kolchos = Kollektivwirtschaft; Kollektivwirtschaft; genossenschaftlich organisierter landwirtschaftlicher Großbetrieb in der UdSSR. Nach 1917 auf der Grundlage der Freiwilligkeit entstanden, seit 1929 durch (Zwangs-)Kollektivierung bäuerlicher Einzelwirtschaften, in deren Folge Millionen von Bauern deportiert wurden und umkamen (Entkulakisierung).
Der staatseigene Boden wurde den Kolchosen zur Nutzung gegen Pflichtablieferungen zu staatlich fixierten Preisen überlassen, Überschüsse zu freien Preisen auf den sogenannten Kolchosemärkten verkauft.
Die Rolle der Kolchosen waren strategischer Art und sollten dem Staat feste Agrarlieferungen garantieren. Dadurch kam es zu immer größeren Beschneidungen des ''kollektiven'' Ernteertrages. In jedem Herbst führte die Steuereinzugskampagne zu einem regelrechten Machtkampf zwischen dem Staat und der Bauernschaft, die verzweifelt versuchte, einen Teil der Ernte für sich zu behalten. Es ging um Entscheidendes: für den Staat um die Einnahmen, für die Bauern ums Überleben.

3 Kulak = Bezeichnung für den russischen Mittel- und Großbauern aber auch eine abfällige Bezeichnung der wohlhabenden Bauern auf dem Lande. Kulak, was wörtlich übersetzt “Faust“ bedeutet (jemand, der seinen Besitz fest in den Fäusten hält), wird im Sinne von “Wucherer“ oder “Dorfkapitalist“ gebraucht. Jemanden, der kleine Bauern und seinen in Not geratenen Nachbarn um Hab und Gut gebracht hatte.
Nach der Oktoberrevolution von 1917  und im Verlauf der Kollektivierungsmaßnahmen (1929/30) unter Stalin wurde der Begriff Kulak zum Schimpfwort und auf alle angeblichen 'Ausbeuter' in der Landwirtschaft ausgedehnt und als feindliche 'Klasse' liquidiert. Auch Witwen und alte Bauern fielen unter diese Kategorie, weil sie einen Knecht oder eine Magd beschäftigten.
1919 war ein Kulak der, der zwei Häuser mit Blechdach, mehr als fünf Kühe oder Pferde oder mehr als 20 Schafe besaß. Auf dem Höhepunkt der Kollektivierung (1932) bedeutete bereits geringfügiges landwirtschaftliches Eigentum, wie zum Beispiel eine Kuh oder die Beschäftigung von Tagelöhnern oder Mägden und Knechten als Kulakentum und führte zu Zwangsmaßnahmen: Schon seit 1927 mussten sie höhere Steurn bezahlen und bekamen keine Kredite oder Geräte mehr. Viele verkleinerten ihre Anbaufläche und ihren Viehbestand, um kein 'Kulak' mehr zu sein, was dazu führte, dass bald Getreide für den Export und zur Versorgung der Städte fehlte.
Im Herbst 1929 wurde es den Kulaken verboten, in die entstehenden Kollektive einzutreten, weil man dort ihre Meinungsführerschaft fürchtete, was dann zu Enteignung und schließlich zu Deportation in menschenleere Gebiete oder in den Gulag führte. Oft wurden auch die Familienangehörigen der 'Kulaken' und sogar angebliche Kulakensöldlinge verfolgt.
Auf der Grundlage der Beschlüsse des Zentralexekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare vom 30. Januar und 1. Februar 1930 und einer Instruktion vom 4. Februar wurden alle Kulaken in drei Kategorien eingeteilt: die Bauern der 1. Kategorie galten als 'konterrevolutionäre Elemente', die sofern sie Anzeichen fortgesetzten Widerstands zeigten, entweder gleich erschossen, oder in ein Arbeitslager der GPU (Staatssicherheitsdienst) gebracht wurden. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt und ihre Angehörigen fielen unter die Deportierten.
Die Kulaken der 2. Kategorie waren zwar weniger gefährlich, galten aber als 'fürchterliche Ausbeuter'. Sie wurden enteignet, verhaftet und mit ihren Familien in entlegene Gebiete deportiert.
Die Kulaken der 3. Kategorie galten als 'staatstreu, wurden enteignet und in unfruchtbare, unkultivierte Zonen ihrer Distrikte umgesiedelt.

4 Das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee war von 1917 bis 1937 die oberste gesetzgebende, anordnende und kontrollierende Behörde der Staatsmacht in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR)

5 Der Rat der Volkskommissare der Sowjetunion wurde 1917 eingerichtet und war vom 6. Juli 1923 bis zum 15. März 1946 das oberste ausführende und gesetzgebende Organ der Sowjetunion.