Du bist in: Deutsche in Russland > Das russische Zarenreich im 19. Jahrhundert > Deutsche Siedler in Kaukasien

Deutsche Siedler in Kaukasien

(Teil 1 von 2)

Die Vorstellungswelt zahlreicher Menschen des pietistischen Württemberg bemächtigte sich zu jener Zeit ganz unterschiedlicher religiöser Phantasien.

Jean-Baptiste Mauzaisse: Napoleon I., gekrönt von der Allegorie der Zeit, schreibt den Code Civil
Jean-Baptiste Mauzaisse:

Napoleon I. schreibt den Code Civil

Die französische Revo-lution, die jahrelangen kriegerischen Auseinan-dersetzungen zuerst mit und dann gegen Napoleon (Revolutionskriege von 1792 bis 1802, Napo-leonische Kriege von 1800 bis 1814/15) hatten gewaltige Opfer an Menschenleben gefordert, hatten aber auch Geld und Material gekostet. Die nahezu ununterbrochenen Kriegsanstrengungen trieben die Steuerlasten in die Höhe und führten in Kriegszeiten zu permanenten Sonderabgaben und Beschlagnahmungen, in Friedenszeiten dagegen zur Abzahlung von Kriegsschulden und Entschädigungsleistungen an die Siegermächte.

Hungerstaler 1816
Groß ist die Noth
o Herr erbarme dich

Die Bevölkerung wurde aber nicht nur durch Kriegslasten, sondern auch durch anhaltende Katastrophen-jahrgänge ins Elend getrieben. Die Jahre 1802, 1809, 1810 und 1812 bis 1815 bescherten nur bescheidene Ernteerträge. Bei den hohen Abgaben, die die Bauern belastete, war an eine Sicherung der eigenen Wirtschaftslage nicht zu denken, geschweige denn, sich Vorräte für Notzeiten zu erschaffen. Das Jahr 1816, dem “Jahr ohne Sonne1“, brachte dann durch schlechte Witterungsverhältnisse nahezu einen Totalausfall der Ernte.

König Friedrich I. von Württemberg
König Friedrich I. von Württemberg

Aber auch innenpolitisch wehte ein eisiger Wind: Württemberg stand damals unter der strengen Hand König Friedrichs I. Er war schon als Herzog und Kurfürst ein autokratischer Herrscher und forderte rigorosen Gehorsam. Friedrich überzog das Land mit einem feinmaschigen Verwal-tungsnetz, das hervorragende obrigkeitliche Kontrolle bot. Die alten Privilegien für die Landstände2 und die Kirchen wurden abgeschafft, die allgemeine Zensur verschärft.

Dazu kamen die Überbevölkerung durch Realteilung, die 1806 eingeführte allgemeine Wehr-pflicht und die um die Jahrhundertwende durchgeführten Reformen in der württem-bergischen Landeskirche (Ein-führung des neuen Gesangbuches 1791, neu eingeführte Liturgie 1809).

mehr ...... Auswanderungsgründe

 

Bibelstunde
Bibelstunde

Unter den württember-gischen Pietisten ver-breiteten sich ab der Jahrhundertwende (um 1800) separatistische (Radikalpietisten) Gruppen mit und schwärmerischen3 (Chiliasten4) Neigungen, die sich zu Bibelstunden (collegia pietatis) ver-sammelt hatten und deshalb in großen Gegensatz zur evan-gelischen württembergischen Landeskirche und zum württembergischen Staat gekommen waren.

Die chiliastischen Pietisten sahen in den Geschehnissen der Zeit ein deutliches Zeichen der Endzeit vor dem göttlichen Gericht und für viele bedeutete die Auswanderung die einzige Lösung. Aber wohin auswandern? Eine Auswanderungsmöglichkeit ergab sich erst 1816, als das Auswanderungsverbot in Württemberg aufgehoben wurde.

Barbara Juliane von Krüdener
Barbara Juliane von Krüdener

Bei der Vorbereitung der Auswanderung spielte die baltische Baronin Juliane von Krüdener eine entscheidende Rolle. Seit 1808 wirkte sie unter den schwäbischen Chiliasten und besonders nach Napoleons Rückkehr von Elba (1815) gewann sie einen immer größeren Einfluss auf den frommen Zaren Alexander I., der seit 1801 in Russland herrschte. Die mystische Baronin Juliane von Krüdener, die den Zaren in Heilbronn am 4. Juni 1815 kennen gelernt hatte, bat ihn den Chiliasten die Erlaubnis zu gewähren sich in Transkaukasien, im heutigen Georgien und Aserbaidschan, in der Nähe des Berges Ararat, anzusiedeln.

barrabarrabarra

zurück 1 2 weiter

Anmerkungen

1 Jahr ohne Sonne = Erst 1920 fand ein amerikanischer Klimaforscher die Ursache heraus: Das Jahr ohne Sommer stand in direktem Zusammenhang mit dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815. Bei dieser gewaltigen Eruption wurden Unmengen Asche in die Stratosphäre geschleudert. Die Schwefelgase bildeten dort winzige Tröpfchen, die mit den Winden um die Erde zogen und noch Monate später das Sonnenlicht absorbierten.

2 Landstände: In den deutschen Territorien des Mittelalters und bis zum 18. Jahrhundert die nach Ständen (Geistlichkeit, Ritterschaft, Städte, selten auch die Bauern) gegliederte Vertretung des Landes gegenüber dem Landesherrn. Die Landstände traten meist nur auf Einberufung durch den Landesherren zusammen. Zu ihren Befugnissen gehörte besonders das Steuerbewilligungsrecht. Der Absolutismus verminderte im 17. und 18. Jahrhundert die Macht der Landstände

3 Schwärmer = abfällige Bezeichnung für radikale Gruppen (Spiritualisten) in der Reformationszeit. Luther bezeichnete alle, die nicht mit seinem Verständnis der Bibel und seiner Lehre übereinstimmten, als "Schwärmer" oder "Schwarmgeister".
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung Anhänger reformatorischer Bewegungen als "Schwärmer" bezeichnet, also diejenigen die sich als unmittelbar vom Heiligen Geist geführt verstanden, den Anspruch erhoben, die reformatorischen Glaubenserkenntnis radikal zu verwirklichen und diesen "göttlichen Auftrag" als Offenbarungsquelle neben bzw. über die Bibel stellten und den von ihnen abgelehnten Strukturen und Formen der Kirche und des Gottesdienstes eigene, "dem Heiligen Geist gemäße" Formen entgegensetzen.

4 Chiliasmus oder Millenarismus = (aus dem Griechischen von chilias, 1000); bezeichnet den Glauben an die Wiederkunft Jesu Christi und seine tausendjährige Herrschaft auf Erden am Ende der Weltgeschichte bzw. am Ende allen Unheils, an dem nur die Gerechten teilhaben sollten. Sie gründen sich auf eine Stelle der Johannesoffenbahrung (Offb 1,1; 20, 1-8).
Der Begriff wird auch als Bezeichnung für den Glauben an das nahe Ende der gegenwärtigen Welt verwendet und ist manchmal mit der Erschaffung eines irdischen Paradieses, oder für einen apokalyptischen Fatalismus im Zusammenhang mit einer Jahrtausendwende verbunden.
Spuren des Chiliasmus findet man schon in den ersten Jahrhunderten der Christenheit. Bis weit ins Mittelalter hinein fürchteten die Menschen daher die Jahrtausendwende, die mit der Wiederkunft Christi zugleich den Weltuntergang besiegele. Die meisten protestantischen Reformatoren lehnten den Chiliasmus grundsätzlich ab, doch lebte er im 16. Jahrhundert bei den Täufern und Taboriten wieder auf und im 17. Jahrhundert hingen protestantische Erweckungsbewegungen dem Chiliasmus an. Von dort aus drang er in den Pietismus ein. Heute glauben beispielsweise die Adventisten, die Mormonen und die Zeugen Jehovas an ein Millennium.