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Die Leibeigenschaft in Russland

im 18. Jahrhundert

(Teil 3 von 3)

Katharina II.
Katharina II.

K

atharina II. (Regierungszeit: 1762–1796), Frau Peters III., die die Ideen der Aufklärung1 vertrat, ver-sprach ihrem Volk bei ihrem Regierungsantritt Freiheit und Wohl-stand, verurteilte Absolutismus und Sklaventum, verkündete Religions-freiheit und plante, Russland an den westeuropäischen Entwicklungsstand anzugleichen.

„Es ist dem christlichen Glauben und der Gerechtigkeit zuwider, aus Menschen Sklaven zu machen; alle werden frei geboren.”

aus: Dr. J. Conrad, Dr. L. Elster, Dr. W. Lexis, Dr. Edg. Loening, Handwörterbuch der Staatswissenschften, Zeiter Band, Gustav Fischer Verlag, Jena, 1899, S. 401;
Katharina II. am Tag ihrer Thronbesteigung
Katharina II. am Tag ihrer Thronbesteigung

Die Versprechen blieben nicht nur leere Floskeln, denn tatsächlich erlebte das Zarenreich unter Katharinas Herrschaft sowohl einen militärischen, geistigen als auch kulturellen Aufschwung.

Das Vorhaben, die Leibeigenschaft abzuschaffen, verwirklichte Katharina jedoch nicht. Auch wenn der Einfluss der Aufklärung auf Katharina groß war, so war die Beeinflussung der russischen herrschenden Klasse der Grundbesitzer ausschlaggebend für sie, indem sie den Forderungen des Adels nachgab und die Leibeigenen außerhalb des Rechtsschutzes stellte. Unter Katharina II. erlebte die Leibeigenschaft ihren Höhepunkt, denn durch ihre verschärfte Politik wurde die Leibeigenschaft zu einem festen Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung.

Sobornoje Uloschenije
Sobornoje Uloschenije

Die mit dem Gesetzbuch (Sobornoje Uloschenije) von 1649 eingeführte Leibeigen-schaft nahm im Laufe der Zeit unterdrückendere Formen an, was sich darin zeigte, dass die Verfügungsgewalt der Guts-besitzer über die abhängigen Bauern sich immer mehr ausweitete.

Als die Dienstpflicht2 des Adels unter Peter III. am 28. Februar 1762 aufgehoben wurde und der Adel das Recht erhielt, die als Dienstvergütung überlassenen Ländereien und Bauern auch ohne Gegenleistung im Staatsdienst zu behalten, zogen es viele vor, aus dem Dienst auszuscheiden und sich auf ihre Güter zurückzuziehen, um sich über die landwirtschaftlichen Erträge zu kümmern.

Leibeigene erwerben und besitzen durfte seit 1758 nur noch der Adel und die Kirche, seit 1762 nur noch der Adel, dem vom Staat außerdem umfassende Rechte übertragen worden waren, die es ihm erlaubten, mit den leibeigenen Bauern nach eigenem Gutdünken zu 'wirtschaften'. Für die Aristokratie war ihr Land, seit der Aufhebung der Dienstpflicht, häufig die einzige Einkommensquelle, welches ihnen nicht nur den Unterhalt, sondern auch einen 'standesgemäßen' Lebensstil finanzieren musste, sodass sie bestrebt waren, möglichst ertragreich die bäuerliche Arbeitskraft (Leibeigene) zu nutzen.

Prügelstrafe
Prügelstrafe

Darüber hinaus betrachteten die Gutsbesitzer ihr Landgut häufig als ihr eigenes Reich, in dem sie die Regeln bestimmten und ihre Autorität geltend machten. Die Bauern wurden dabei oft als unmündige Kinder betrachtet, die streng bewacht und gezüchtigt werden mussten. Der Gutsherr hatte die Befugnis, körperliche Strafen zu verhängen; nur durfte er seine Leibeigenen nicht töten.

Der Gutsbesitzer behielt sich außerdem das Recht vor, regulierend in das Heiratsverhalten seiner Untertanen einzugreifen, achtete darauf, dass die Bauern an Sonn- und Feiertagen die Kirche besuchten und entschied über die Einberufung oder das Verbot von Gemeindeversammlungen.


Russische Infanterie 1756-62
Russische Infanterie 1756-62

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war jeder zweite Bewohner des Russischen Reiches Untertan eines adeligen Gutsbesitzers, wobei dieser wiederum in einem Abhängig-keitsverhältnis zum Zaren stand. Über die Leibeigenschaft hatte der Staat Zugriff auf die breite Masse seiner Untertanen, was nicht zuletzt für das Militärwesen eine wichtige Rolle spielte. Die Streitkräfte der Zarin bestanden in erster Linie aus Bauern, die aufgrund ihrer Rechtlosigkeit mühelos zu rekrutieren waren. Der Soldat entkam dadurch zwar dem Zugriff durch seinen vormaligen Gutsherrn und wurde 'frei', doch de facto war er nun Untertan seines Regimentes und hatte ebenso wenige gesetzliche Rechte wie ein Leibeigener. Die Gutsverwaltung bestimmte die Rekruten, was meistens dazu führte, dass entweder untaugliche Arbeitskräfte oder unliebsame Bauern in die Armee 'abgeschoben' wurden.

 

Die abhängige Landbevölkerung war zum persönlichen Eigentum ihrer Gutsherren geworden und konnte beliebig verschenkt, verpfändet, verkauft oder als Rekruten gestellt werden. Mitglieder einer Familie konnten einzeln in unterschiedliche Landesecken verschenkt oder verkauft werden, so dass sie einander nie wiedersahen. Häufig wurden Menschen auch am Kartentisch verspielt.

der Gutsbesitzer hat das Recht Mitglieder einer Familie einzeln zu verkaufen
der Gutsbesitzer hat das Recht Mitglieder einer Familie einzeln zu verkaufen

In der Sankt Petersburger Zeitung konnte man Inserate lesen, wie die folgenden:

„Angeboten wird ein unverheirateter Mann, geeignet als Husar- und Jagdaufseher, 29 Jahre alt. Nach dem Preis fragen in der 8. Abteilung des 5. Stadtviertels unter der Nr. 399 beim Hausmeister“... „Angeboten wird ein 16jähriges Bauernmädchen, von ausgesprochen gutem Benehmen, und eine etwas gebrauchte Karosse“.... „Angeboten werden Koch mit Kutscher und ein Papagei“.

Konstantin Trutowski (1879): Bauernfamilie
Konstantin Trutowski (1879): Bauernfamilie

1765 dehnte die Zarin die Leibeigenschaft auch auf Kleinrussland aus, be-stätigte das Gesetz der Verbannung nach Sibirien von Elisabeth I. aus dem Jahr 1760 und ergänzte es mit der Überstellung 'wider-spenstiger Leibeigener' zur Zwangsarbeit. Außerdem konnten beschäftigungslose 'Freigeborene' zu Leib-eigenen werden, indem sie jenen Gutsbesitzern zugeschrieben wurden, auf deren Ländereien sie lebten.

Ein Ukas aus dem Jahr 1767 verbot den 'Adelsbauern' endgültig, sich direkt an den Monarchen zu wenden, um sich über ihren Grundherrn wegen Misshandlungen zu beschwerden. Jeder Leibeigene, der es doch tat, wurde mit dem „Knut" bestraft und nach Gutdünken seines Herrn nach Sibirien zwangsdeportiert oder als Kettensträfling (katorga) zur Arbeit gezwungen werden.

Kettensträflinge
Kettensträflinge

Dazu vermehrte sich die Zahl der Fron3bauern, indem Staatsbauern4 auf die großzügigste Art gewissen Günstlingen und Generälen verschenkt wurden.

Es kam vor, dass Leibeigene auf den Jahrmärkten, wie Vieh, herdenweise verkauft wurden. 1771 verbot die Zarin Auktionen von Leibeigenen, führte das Gesetz am 7. Oktober 1792 aber wieder ein, indem bestimmt wurde, dass „die leibeigenen gutsherrlichen Leute und Bauern einen Bestandtheil des gutsherrlichen Vermögens bilden und bilden sollen, bei deren Veräußerung, ebenso wie bei der Veräußerung von unbeweglicher Habe, Kaufbriefe ausgestellt und Gebühren zu Gunsten des Fiskus erhoben werden.

aus: Georgi W. Plechanow, N.G. Tschernischewsky, J. H. W. Dietz, Stuttgart, 1894;

 

Briefmarke der UdSSR von 1973 auf den 200. Jahrestag des Pugatschowschen Bauernkrieges von 1773 bis 1775
Briefmarke der UdSSR von 1973
auf den 200. Jahrestag des
Pugatschowschen Bauernkrieges von 1773 bis 1775

Unterdessen blieb das Volk eine Antwort auf die Einführung der krassesten Form der Leib-eigenschaft nicht schuldig. Die Antwort war der große gegen den russischen Absolutismus gerich-teten Bauernkrieg von Kosaken, Raskolniki (Altgläubige), Basch-kiren und Leibeigenen im Ural- und Wolgagebiet unter der Führung des Donkosaken Jemeljan Pugatschow von 1773-1775. Pugatschows Ziel war die Errichtung eines Bauernstaates unter einem Bauernzaren. Am 31. Juli 1774 erließ Pugatschow ein Manifest, in dem er die Leibeigenen zu freien Kosaken erklärte, sie von der Kopfsteuer und anderen Geldabgaben befreite und ihnen den Grundbesitz des Adels schenkte. Nach anfänglichen Erfolgen wurde Pugatschow allerdings von Regierungstruppen besiegt, von seinen Mitstreitern ausgeliefert und am 21. Januar 1775 in Moskau hingerichtet.

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Paul I.
Paul I.

Erst Paul I. (Regierungszeit: 1796 bis 1801), Sohn Katharinas II., machte den ersten Versuch, die Macht der Gutsherren auf gesetzlichem Weg zu be-schränken, indem er am 5. April 1797 durch einen Ukas den sonntäglichen Frondienst3 auf den gutsherrlichen Äckern aufhob und ihn auf drei Wochentage beschränkte. Der Frondienst war für den Bauern eine harte Prüfung, weil er in der Jahreszeit, die sich für die landwirtschaftlichen Arbeiten am besten eignete, sich gezwungen sah, das Feld seines Herren zu bestellen, was ihn nicht nur Zeit, sondern auch ungeheuer viel Kraft kostete.

Insbesondere verbot der Zar, in den Zeitungen Anzeigen über den Verkauf von Gutsbauern zu veröffentlichen, und erlaubte den Bauern wieder, gleich anderen Ständen, dem Zaren Treue zu schwören; dieses Privileg war ihnen seit 1741 vorenthalten. Im folgenden Jahr wurde verboten, die Bauern Kleinrusslands ohne Grund und Boden zu verkaufen.

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1 Aufklärung = Bezeichnung einer geistesgeschichtlichen Epoche des 18. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika. Der Begriff Aufklärung stammt von dem englischen ,,englightenment", dem französischen ,,illuminére" und dem italienischen Wort ,,illuminismo" ab und bedeutet Erleuchtung im Sinne des Verstandes. Im Allgemeinen verstehen wir unter Aufklärung eine Erweiterung unseres Verstandes. ,,Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" war nach Immanuel Kant der Leitspruch der europäischen Aufklärung und meinte damit direkt die innere Befreiung von der Bevormundung.
Für die Aufklärung bestimmend sind neben Rationalismus und Empirismus u. a. die folgenden Auffassungen: Kritik an Kirche und religiösem Dogmatismus, Kritik an der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, unbedingter Fortschrittsglaube, Toleranz in Gesellschaft, Politik und Religion, Weltbürgertum (Kosmopolitismus), Individualismus, Deismus (Lehre, wonach Gott die Menschen und die Welt zwar erschaffen hat, dann aber nicht mehr in den Weltengang eingreift).
In Russland bezeichnete man schon im Mittelalter mit dem Begriff просвеще́ние (Aufklärung) die göttliche Erleuchtung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhielt er neue Bedeutungen und meinte sowohl allgemein "Bildung", "Wissenserwerb" und "Zivilisation", "Europäisierung" und "Verwestlichung", Übung der Verstandeskräfte und menschliche Selbstvervollkommnung, als auch im engeren Sinn die Teilhabe Russlands an der europäischen Emanzipationsbewegung des "Siècle des Lumières". Dabei wurde die Verbreitung der Aufklärung hauptsächlich durch ausländischen Fachkräfte gefördert.
Wenn es in der Anfangsphase unter Peter dem Großen vorwiegend praktische Berufe, Offiziere, Seeleute, Ärzte, Handwerker usw. waren, nahm Russland seit den 1730er Jahren zunehmend Universitätsabsolventen, zumeist junge Theologen als Hauslehrer (Hofmeister) auf, die in adeligen Häusern westliches Denken vermittelten. Theater- und Musikleben St. Petersburgs, aber auch die Bildenden Künste wurden im 18. Jahrhundert von italienischen, deutschen und französischen Künstlern geprägt. Beträchtlichen Anteil besaßen auch die Baltendeutschen, die zumeist an den Universitäten des Reiches ihre Ausbildung erhielten und später in russischen Diensten Karriere machten. Unter Katharina II. erhielt die Aufklärung in Russland ihren Höhepunkt; sie stellte sich programmatisch in die Tradition Peters.

2 Dienstpflicht = Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die Rechte und Privilegien des Adels erheblich erweitert: Im Jahre 1726 wurde die obligatorische lebenslange Dienstpflicht des Adels im Beamtentum oder der Armee auf 25 Jahre begrenzt. Unter Anna Iwanowna wurde die Dienstpflicht auf 20 Jahre herabgesetzt und ab 1736 war der Adel dazu verpflichtet, seine Söhne im Alter von sieben Jahren 'inspizieren' zu lassen. Nach einer Überprüfung der Schreib- und Lesefähigkeit im Alter von 16 Jahren hatten sie sich mit Erreichen des 20sten Lebensjahres für den Staatsdienst zur Verfügung zu halten. Die Zwangsrekrutierung des Adels zog jedoch Verödung der Provinz nach sich, so dass Peter III., um dem Adel die Rückkehr auf die Güter zu ermöglichen, dessen Dienstpflicht durch den Ukas vom 28. Februar 1762 beseitigte. Gleichzeitig erhielt der Adel 1785 unter Katharina II. totales und schon entartetes Verfügungsrecht über die ihm untertanen Bauern: Diese durften verkauft, nach Sibirien deportiert oder zwangsweise zu Soldaten gemacht werden. Dieses wurde erst unter Zar Alexander II. durch das Gesetz vom 19. Februar/3. März 1861 über die Abschaffung der Leibeigenschaft geändert.

3 Unter die Frondienste zählten alle Arten von unentgeltlicher Feldbestellung, ferner das Mahlen des Getreides, der Gemüseanbau, das Errichten von Gebäuden und Zäunen, die Anlage von Fischteichen, das Bierbrauen und Flachsspinnen. Die Barščina geht bis in die Kiewer Rus’ zurück. Die Fronarbeit musste im Rahmen der Leibeigenschaft - von den Grundherrn willkürlich, in Form und Dauer häufig ausbeuterisch festgesetzt - als Arbeit auf den Feldern, im Haus und als Fuhrdienst das ganze Jahr hindurch geleistet werden. Das Ausmaß insgesamt war zeitlich und geographisch verschieden.
Erst 1797 kam unter Paul I. ein wenig beachteter Erlass heraus, der die Fronarbeit auf maximal 3 Wochentage beschränkte. Die Fronarbeit wurde ab dem 17. Jahrhundert immer mehr durch den Obrok ersetzt und dauerte bis in die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Sie wurde mit der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 in geregelte Vertragsbeziehungen zwischen Bauern und Gutsbesitzern überführt.

4 Staatsbauern wurden auch als "Kronsbauern" bezeichnet und galten offiziell als Leibeigene des Staates (im Gegensatz zu den Leibeigenen der Landbesitzer). Sie verfügten über mehr Freiheiten als man denkt. So konnten die Staatsbauern Land erwerben, durften aber keine Leibeigenen besitzen. Die Staatsbauern wurden auch dazu berechtigt ihren Status aufzugeben und in die Stadt zu ziehen. Die “Leibeigenen des Staates“ waren dem Staat aber auf vielerlei Weise verpflichtet: sie konnten in die Armee eingezogen werden, mussten Steuern entrichten und Pacht für das vom Staat zur Verfügung gestellte Land zahlen.

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