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Die Leibeigenschaft in Russland

im 17. Jahrhundert

(Teil 1 von 2)

 

Michael I.
Michael I.

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nter Michael I. (Regierungs-zeit: 1613–1645) wies das Verhältnis zwischen Gutsherrn und Bauern Züge einer Vertragsbeziehung auf: wenn der Gutsherr seine Ansprüche steigerte, stand es dem Bauern frei, zu einem neuen Herrn abzuziehen, der ihm bessere Bedingungen versprach. Hieraus leitete sich eine Fürsorgepflicht des Gutsherrn für seine Bauern ab, wie ein Gesetz sie 1621 zum Ausdruck brachte. Es verpflichtete die Gutsbesitzer dazu, ihren Besitz sorgfältig zu bewirtschaften und Bauern nicht zu 'schinden', um sie vom Wegziehen abzuhalten. Derjenige Gutsbesitzer, der dagegen verstieß, sollte der Knute verfallen.

Knute
Knute
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Während der Regierungszeit (1645-1676) von Alexei I. herrschte eine starke Unterdrückung der Bauern. Zusätzliche hohe Steuerlasten führten ab 1648 immer wieder zu Aufständen (Salzaufstand1 1648, Chmelnizki-Aufstand 1648/57, Aufstand in Pskow und Nowgorod2 1650, Kupfergeldaufstand3 1662, Kosakenaufstand 1666) und zu Abwanderungen über den Ural.

Bauern bei der Zahlung ihrer Abgaben
Bauern bei der Zahlung ihrer Abgaben
Sobornoje Uloschenije
Sobornoje Uloschenije

Das Gesetzbuch von 1649 (Sobornoje Uloschenije) hob die unter Boris Gudonow 1597 einge-führten sogenannten Frist-jahre (das Recht geflüchtete Bauern zu verfolgen) auf, verbot generell den bäuerlichen Pächtern den Wegzug (Schollenbindung) und enthielt umfangreiche Verfahrensregelungen zur Rückführung Entlaufener. Damit war die Schollenbindung für die große Mehrheit der russischen Bauern besiegelt. Die Bauern waren nun nicht nur zu hohen Abgaben und Frondiensten5 verpflichtet, sondern waren auch in ihren privaten Rechten stark eingeschränkt: wenn sie sich als Tagelöhner verdingen oder Schulden aufnehmen wollten, brauchten sie die Zustimmung ihres Grundherrn, dem 'gemeinschaftlichen Vater'.

Das Verhältnis des Gutsherrn zu seinen Leibeigenen gestattete ihm, auf ihre intimsten Verhältnisse entscheidend einzuwirken: er stiftete Ehen, wobei er eine etwaige Liebe nur dann in Betracht zog, wenn dadurch sein Vorteil gewahrt wurde. Oft waren Umstände entscheidend, deren sich der unfreiwillige Bräutigam gar nicht freute, wenn er seine Braut 'aus der Hand des Herrn' nehmen musste. Das Ius primae noctis6 wurde praktisch sehr oft ausgeübt.

Wassili Dmitrijewitsch Polenow (1874): Das Herrenrecht
Wassili Dmitrijewitsch Polenow (1874): 'Das Herrenrecht'
(ein alter Vater bringt seine Töchter zum Feudalherrn)

Und auch ohne Rücksicht auf dieses Ius bemühte sich der Gutsherr oft recht eifrig um die physische 'Veredelung' seiner Leibeigenen und wurde so zu einem doppelten 'Vater' derselben.

„.. Die Begriffe von Sittlichkeit mussten dadurch natürlich leiden. Sogar unnatürliche Laster sollen unter den Gutsbesitzern nicht selten vorgekommen sein. Der Ortsgeistliche, der seinem hohen Beruf nach auf die Reinigung sittlicher Begriffe seiner Pfarrkinder hätte wirken sollen, war dieser Aufgabe meist nicht gewachsen und übrigens dem Gutsherrn gegenüber vollkommen ohnmächtig....”

aus: Franjo Jurjevic Celestin, Russland seit Aufhebung der Leibeigenschaft, Ig.v.Kleinmayr&Fed.Bamberg, Laibach, 1875, S. 75;

Wollte jemand seine Braut in ein anderes Dorf mitnehmen, so musste der Bräutigam für sie eine Ablösesumme in Höhe von fünf bis zehn Rubel bezahlen.

körperliche Züchtigung
körperliche Züchtigung

Der Gutsbesitzer war zugleich Gerichtsherr über seine Bauern, außer bei Kapitalverbrechen wie Mord und schwerem Raub. Die Bauern waren ihm grund-sätzlich Gehorsam schuldig. Verstießen sie gegen seine Anordnungen, so hatte er das Recht der körperlichen Züchtigung mit Stöcken und Knuten, was im Alltag häufig vorkam.

 

Ausschnitt des Gemäldes von Wassili Surikow: Die Bojarin Morosowa auf dem Schlitten (1671)
ein Raskoloniker (Altgläubiger)
Ausschnitt des Gemäldes von Wassili Surikow:
Die Bojarin Morosowa auf dem Schlitten (1671)

Mancher Gutsherr ließ seine Bauern öffentlich züchtigen, wenn sie nicht regelmäßig zur Kirche und zur Beichte gingen oder sich zum Raskol (russisch für [Kirchen]-spaltung) bekannten oder den Zaren kritisierten. Falls ein Grundherr seinen Leibeigenen hatte zu Tode peitschen lassen, sollte der Staat eigentlich eine Untersuchung einleiten, doch in der Praxis wurde meist kein Prozess geführt, oder das Verfahren endete mit Freispruch.

Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verkauften Guts-besitzer Bauern oder vergaben sie als Mitgift. Daher entflohen Leibeigene sehr häufig ihren Herren und die Regierung hatte das ganze 17. Jahrhundert hindurch zu tun, um entlaufene Bauern einzufangen und diejenigen, die sich Verbrechen schuldig gemacht hatten, zu bestrafen.

Nikolai Vasilyevich Nevrev (1866): Der Handel
Nikolai Vasilyevich Nevrev (1866): Der Handel (zwei Gutsherren handeln den Preis einer Leibeigenen aus)

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1 Salzaufstand = auch Moskauer Aufstand; Um die Finanzierung der Südexpansion zu steigern wurde am 9. Februar 1646 eine Salzabgabe angeordnet. Der aufgestaute Hass der Bevölkerung entlud sich am 1. Juni 1648 in einem Volksaufstand.

2 Aufstand in Pskow und Nowgorod = ähnliche Ausschreitungen ungezügelter Volkswut wie der Salzaufstand von 1648 kamen 1650 in Pskow, Nowgorod und Tomsk vor. Veranlassung dazu war auch hier das unredliche Verfahren der russischen Beamten.
Entgegen den Bestimmungen des Friedens von Stolbowo (1617), der den Polnisch-Schwedischen Krieg (1609-1629) vorübergehend beendete, waren ungefähr 50.000 Russen an den damals an Schweden abgetretenen Gebieten ins Russische Reich umgezogen und nicht an die Schweden zurückgeschickt worden. Die Schweden ließen sich diesen Vertragsbruch teuer bezahlen: Für die schuldige Summe von 40.000 Rubel bekamen sie 20.000 Rubel, 10.000 Viertel Getreide (1 Viertel = 210 Liter) aus den zarischen Kornkammern in Pskow und sollten weitere 2.000 Viertel durch Aufkäufer erwerben können, weshalb der Getreidepreis künstlich in die Höhe getrieben wurde. Der Aufstand griff dann auch auf Nowgorod und Tomsk über und wurde militärisch niedergeschlagen. Die Rädelsführer wurden zum Teil zum Tode verurteilt und zum Teil nach Sibirien verbannt.

3 Kupfergeldaufstand = die Ursachen für den Kupfergeldaufstand kann man im 1654 beginnenden zweiten Nordischen Krieg suchen. Dieser wurde zu Beginn zwar mit einer zehnprozentigen Sondersteuer und Klosteranleihen finanziert, machte dann aber die Prägung von Münzen mit reduziertem Silbergehalt und darauf von Kupfergeld notwendig, was dem Staat erhebliche Gewinne einbrachte. Dabei kam es zu ungesetzlichen Bereicherungen und wegen der zu milden Bestrafung korrupter Münzmeister zu großen Unruhen, zumal auch eine Inflation einsetzte: 1658 kam auf 1 Silber- noch 1 Kupferrubel, Ende 1661 waren es schon 4 Kupferrubel (zwei Jahre später betrug das Verhältnis 15:1). Zusammen mit anderen Bedrückungen (dreifache Teuerung, Steueraußenstände vergangener Jahre, Einsammlung des “Fünften“ als Sondersteuer, Einziehung der Strelitzengelder, einer direkten Steuer für deren Unterhalt) führte diese Entwicklung im Sommer 1662 zu einer Konfrontation des Zaren mit der Bevölkerung in seiner Sommerresidenz Kolomenskoe. Der Zar ließ seine Leibgarde eingreifen; 900 Flüchtende wurden durch die Strelitzen erschossen oder in die nahegelegene Moskwa getrieben, wo sie ertranken. Schon am nächsten Tag wurden 50 Todesurteile vollstreckt, 13 weitere nach Abschluss der Untersuchungen. Viele hundert der insgesamt wohl über 9.000 Beteiligten wurden verbrannt.

4 Der Gutsbesitzer erhielt seine Einkünfte von den Leibeigenen hauptsächlich auf zweierlei Weise. Er setzte entweder eine jährliche Abgabe (obrok) fest und ließ die Bauern wirtschaften oder aber verpflichtete er sie, für ihn zu arbeiten (fronen).

5 Unter die Frondienste zählten alle Arten von unentgeltlicher Feldbestellung, ferner das Mahlen des Getreides, der Gemüseanbau, das Errichten von Gebäuden und Zäunen, die Anlage von Fischteichen, das Bierbrauen und Flachsspinnen. Die Barš"ina geht bis in die Kiewer Rus’ zurück. Die Fronarbeit musste im Rahmen der Leibeigenschaft - von den Grundherrn willkürlich, in Form und Dauer häufig ausbeuterisch festgesetzt - als Arbeit auf den Feldern, im Haus und als Fuhrdienst das ganze Jahr hindurch geleistet werden. Das Ausmaß insgesamt war zeitlich und geographisch verschieden.
Erst 1797 kam unter Paul I. ein wenig beachteter Erlass heraus, der die Fronarbeit auf maximal 3 Wochentage beschränkte. Die Fronarbeit wurde ab dem 17. Jahrhundert immer mehr durch den Obrok ersetzt und dauerte bis in die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Sie wurde mit der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 in geregelte Vertragsbeziehungen zwischen Bauern und Gutsbesitzern überführt.

6 Ius Primae Noctis = (lat.: Recht der ersten Nacht) seit dem 17. Jahrhundert Bezeichnung für ein im Mittelalter (in mehreren europäischen Ländern gelegentlich bezeugtes) Recht des Grundherrn (Feudalherrn) auf 'die erste Nacht' (Beischlaf) mit der Frau eines neu vermählten Hörigen, Leibeigenen und damit auf deren Entjungferung; In welchem Ausmaß dieses Recht, das im Grunde das Recht auf Vergewaltigung ist, ausgeübt wurde, ist umstritten. Unbestritten ist, dass der Grundherr das Recht hatte, seine Einwilligung zur Heirat der unfreien Frau zu erteilen und dafür eine Abgabe zu erheben. Man kann dann das ius primae noctis auch so verstehen: Der Bräutigam erkaufte sich durch die Zahlung eines vom Grundherrn festgesetzten Betrags von diesem das Recht, mit seiner Frau die Hochzeitsnacht zu verbringen.
In jedem Fall zeigt sich hier, am Beispiel der Sexualität, die Verfügungsgewalt von Menschen über Menschen im mittelalterlichen Feudalsystem. Die Rolle der Frau betreffend zeigt das ius primae noctis, dass durch die Gleichsetzung der Frau mit Besitz die Frau als käufliche Ware behandelt wurde, ohne über sich selbst bestimmen zu können; der Mann verfügte über sie und machte sie zum Objekt seiner Wünsche.

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