Die Tempelgesellschaft

(Teil 1 von 4)

Vergesse ich dein Jerusalem, so werde (ich) meiner Rechten vergessen
Bibelspruch über der Eingangstür
des Volkshauses in Haifa
in der Ben Gurion Avenue 11:
Vergesse ich dein Jerusalem, so werde (ich)
meiner Rechten vergessen (Psalm 137:5-9)

Die Tempelgesellschaft (auch: Tempelverein, deutscher Tempel, Je-rusalemfreunde, Hoff-mannianer) ist eine 1848 im Königreich Württemberg entstan-dene Religionsge-meinschaft, die ihren Ursprung in der pietistisch-chiliastischen Bewegung innerhalb der lutherisch württembergischen Landeskirche hatte.

Eugene Delacroix: Französische Revolution
Eugene Delacroix:
Die Freiheit führt das Volk

Die nach der Französischen Re-volution (1789-1799) auftretende neue geistige Strömung, Aufklärung1 oder Rationalismus genannt, ließ viele Menschen nur noch das akzeptieren und glauben, was sie mit ihrem eigenen Verstand begreifen und erforschen konnten. Alles Sinnen und Trachten der Menschen wandte sich dem irdischen Leben zu.

Auch die württem-bergische Landeskirche folgte dieser Geistesrichtung, überprüfte die Glaubenslehre nach den Maßstäben der Vernunft und führte Reformen durch. Das Kirchengesangbuch wurde modernisiert, indem 115 neue Lieder aufgenommen wurden (1791) und 1809 wurde die Liturgie geändert. Die Pfarrer in der Kirche predigten im Sinne der Aufklärung, die religiöse Erkenntnis sollte im wesentlichen aus der menschlichen Vernunft geschöpft werden. Doch das einfache tiefgläubige Volk wendete sich von der Kirche ab.

Christoph Hoffmann
Christoph Hoffmann

Bald bildete sich um den Theologen Christoph Hoffmann, Sohn eines der führenden württembergischen Pietisten, Gottlieb Wilhelm Hoffmann, der Gründer der pietistischen Siedlungen Korntal und Wilhelmsdorf, und seinem Glaubensbruder Georg David Hardegg eine Gruppe namens "Jerusalemfreunde", später Tem-pelgesellschaft oder Templer (nicht zu verwechseln mit dem viel älteren Templerorden) genannt.

..... Aufgeweckt durch die geistige Erschütterung, die das Jahr 1848 über einen großen Teil von Europa und namentlich über Deutschland gebracht hatte, sahen sich einige Männer in Württemberg, darunter die Verfasser dieser Denkschrift, veranlasst, nach dauerhaften Grundlagen für die menschliche Gesellschaft zu forschen.
Wir hatten erkannt, dass das bisherige Fundament der europäischen Gesellschaft, nämlich die römische und protestantische Kirche, nicht mehr im Stande ist, die große Masse der Menschen gegen das Überhandnehmen der Habsucht und der sinnlichen Lüste zu schützen, welche den Bestand der Familien und Völker untergraben.
Wir sahen, dass, wenn diesen feindlichen Mächten nicht Einhalt getan wird, auch die edelsten Bestrebungen für Freiheit und Bildung ihren Zweck nicht erreichen. Wir wussten aus persönlichen Erfahrungen, dass das Christentum in seiner Urquelle, nämlich in der heiligen Schrift, die Heilmittel gegen jene Krankheiten darbietet.
Wir suchten also in der heiligen Schrift nach dem besten Mittel gegen das Verderben der Völker und fanden, dass dieses Mittel in der Herstellung einer ganz auf die Ideen der heiligen Schrift gebauten Gesellschaft besteht, für welche das Vorbild in Bezug auf äußere Lebensordnung in den Zuständen des Volkes Israel in seiner besten Zeit und in Bezug auf das geistige Leben in den Zuständen der ersten Christengemeinden zu finden ist.
Da die heilige Schrift die Stadt Jerusalem mit dem umliegenden Land als den Ort der Erde bezeichnet, von wo diese rein biblische Lebensordnung ihren Ausgang nehmen müsse, so richteten wir unsere Blicke auf Jerusalem und Palästina.....

aus: Chr. Hoffmann und Chr. Paulus: „Occident und Orient“, Jaffa 1875;

 

Heiliges Land
Heiliges Land

Gemeinsam entwickelten Hoffmann und Hardegg den Gedanken, ein "Volk Gottes" zu gründen, das sie an einen Bergungsort führen wollten, den sie in Jerusalem, dem Inbegriff aller spirituellen Sehnsüchte von Juden und Christen fanden.

In Jerusalem, so glaubte Hoffmann, lag ihre Bestimmung: "Christen können wir überall auf der Erde sein, aber ein Volk Gottes kann nur auf dem Boden seiner Väter, kann nur in den Orten, wo Abraham geglaubt, wo David gekämpft und Christus gelitten hat, den Ort und das Ziel seiner Bestimmung erkennen."

In der pietistischen Unter- und Mittelschicht entstand ein religiös motivierter Wunsch zur Auswanderung, der durch die ökonomische Not der 1850er Jahre noch verstärkt wurde. Im Königreich Württemberg kam es zu einer großen Auswanderungswelle, die allerdings in den meisten Fällen nicht in Richtung Osten, sondern nach Amerika ging.

 

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1 Aufklärung = Bezeichnung einer geistesgeschichtlichen Epoche des 18. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika. Der Begriff Aufklärung stammt von dem englischen ,,englightenment", dem französischen ,,illuminére" und dem italienischen Wort ,,illuminismo" ab und bedeutet Erleuchtung im Sinne des Verstandes. Im Allgemeinen verstehen wir unter Aufklärung eine Erweiterung unseres Verstandes. ,,Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" war nach Immanuel Kant der Leitspruch der europäischen Aufklärung und meinte damit direkt die innere Befreiung von der Bevormundung.
Für die Aufklärung bestimmend sind neben Rationalismus und Empirismus u. a. die folgenden Auffassungen: Kritik an Kirche und religiösem Dogmatismus, Kritik an der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, unbedingter Fortschrittsglaube, Toleranz in Gesellschaft, Politik und Religion, Weltbürgertum (Kosmopolitismus), Individualismus, Deismus (Lehre, wonach Gott die Menschen und die Welt zwar erschaffen hat, dann aber nicht mehr in den Weltengang eingreift).
In Russland bezeichnete man schon im Mittelalter mit dem Begriff просвеще́ние (Aufklärung) die göttliche Erleuchtung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhielt er neue Bedeutungen und meinte sowohl allgemein "Bildung", "Wissenserwerb" und "Zivilisation", "Europäisierung" und "Verwestlichung", Übung der Verstandeskräfte und menschliche Selbstvervollkommnung, als auch im engeren Sinn die Teilhabe Russlands an der europäischen Emanzipationsbewegung des "Siècle des Lumières". Dabei wurde die Verbreitung der Aufklärung hauptsächlich durch ausländischen Fachkräfte gefördert.
Wenn es in der Anfangsphase unter Peter dem Großen vorwiegend praktische Berufe, Offiziere, Seeleute, Ärzte, Handwerker usw. waren, nahm Russland seit den 1730er Jahren zunehmend Universitätsabsolventen, zumeist junge Theologen als Hauslehrer (Hofmeister) auf, die in adeligen Häusern westliches Denken vermittelten. Theater- und Musikleben St. Petersburgs, aber auch die Bildenden Künste wurden im 18. Jahrhundert von italienischen, deutschen und französischen Künstlern geprägt. Beträchtlichen Anteil besaßen auch die Baltendeutschen, die zumeist an den Universitäten des Reiches ihre Ausbildung erhielten und später in russischen Diensten Karriere machten. Unter Katharina II. erhielt die Aufklärung in Russland ihren Höhepunkt; sie stellte sich programmatisch in die Tradition Peters.