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Die Gründung der Stadt Odessa
(Teil 2 von 3)
Odessa
Um 1803 hatte Odessa erst 4.000 Einwohner und glich mit ihren kleinen zerstreuten Erdhütten mehr einem Dorf als einer Stadt. Odessa entwickelte sich aber zu einem ungeheuren Handels-hafen, durch den fortwährend das "goldene Getreide eines halben Kaiserreiches strömt" und sollte die Heimat vieler Völker: Ukrainer, Russen, Juden, Polen, Rumäner, Griechen, Bulgaren1, Albanier, Armenier, Italiener, Franzosen, Deutsche (inklusive Mennoniten2) sowie Händler aus vielen anderen Ländern werden.
im Hafen von Odessa
Die größten Handelshäuser der Stadt befanden sich im Besitz der Griechen. An zweiter Stelle standen italienische, an dritter Stelle deutsche Fernkaufleute. Die führenden Handelshäuser gehörten den Familien Cortazzi, Rodokanaki, Stieglitz, Ralli mit ca. 4 Mio., Walther, Porro, Popudov u.a. mit rund 2 Mio. Rubel Umsatz.
italienischer Kaufmann
Die Schiffe der Italiener fuhren unter österreichischer und sardischer Flagge und Italienisch war die Sprache der Kaufleute, inklusiv der Griechen. Ausdrücke wie signor und ecco gingen ins örtliche Russisch über.
Einige Gebäude wurden im italienischen Stil errichtet. Ende der 1830er Jahre war das "Casino del Commerce" das einzige elegante Café der Stadt.
1837 legten entsprechend dem Journal d´Odessa 243 Schiffe unter österreichischer, 161 unter sardischer, 121 unter englischer und 89 unter griechischer Flagge im Hafen von Odessa an.
Herzog Richelieu
Am 27.1.1803 ernannte Alexander I. den Herzog Armand de Richelieu3, ein französischer Emigrant, zum Statthalter von Odessa und beauftragte ihn "die städtische Bevölkerung durch Ausländer zu vermehren".
Als Richelieu in der Stadt eintraf, fiel ihm der große Mangel an Handwerkern auf. Anscheinend konnte er nach seiner Ankunft binnen zweier Wochen nicht einmal ein paar einfache Stühle für sich auftreiben. Einen Tischler, einen Bäcker und einen Schlosser musste er sich vom Handelsminister aus St. Petersburg schicken lassen.
Gegen diesen Zustand ging er energisch vor. Unter Richelieus Verwaltung wuchs Odessa schnell zur Metropole Südrusslands heran.
Richelieustraße mit Opernhaus
in Odessa um 1890
Schon im folgenden Jahr machte Richelieu von seiner Vollmacht Gebrauch, in Odessa Hand-werker nach Kolonisten- recht anzusiedeln und wählte dafür von den 1803 in Odessa angekommenen deutschen Kolonisten sogleich 75 Handwerker-familien aus.
In der "Ober- und Unterkolonie" erhielten sie Grundstücke für Häuser mit Gärten, für eine Kirche mit Pfarramt und Schule; außerhalb der Stadt erhielten sie dagegen 25 Desjatinen (27,5 ha) Land pro Familie. Es entstand eine Handwerkerkolonie, die an der frühen Entwicklung Odessas einen erheblichen Anteil haben sollte.
1805 wählte die Handwerkerkolonie einen Schulzen, bildete eine eigene Zunft und unterstand dem Vormundschaftskontor, das die Aufgabe hatte "alle gerechten Forderungen der Kolonisten zu befriedigen".
Schuhmacher
1814 lebten bereits 123 deutsche Kolonistenfamilien sowie 47 Junggesellen in Odessa. Die am häufigsten vertretene Berufe waren Tischler (19), Schneider und Bäcker (je 13), Schlosser (7) und Gärtner (6). Alle anderen Spezialisten waren höchstens fünfmal vertreten.
Als die deutschen Handwerker im Februar 1816 in die allgemeinen Zünfte eingeschrieben wurden, konnten sie die Zugehörigkeit zum Kolonistenstand erhalten, wenn sie sich zur Zahlung sowohl der Kleinbürger- als auch der Kolonistensteuern verpflichteten.
Schneider
1818 wanderte mein Urururur-großvater väterlicherseits, Karl Friedrich Fieß, geb. in Dürrmenz am 23.1.1775, Bäcker, mit seiner Familie (Frau Anna Maria Albrecht und 5 Kindern (Johann Jakob, geb. 8.10.1802 oder 6.10.1801; Gottlieb, geb. 29.4.1805; Johann Martin, geb. 11.12.1808; Christian Wendel, geb. 29.9.1810) von Dürrmenz (Oberamt Maulbronn, Württemberg) und anderen Chiliasten nach Russland aus. Ihr Ziel war Kaukasien, blieben dann aber in Odessa in der Handwerkervorstadt.
Karl Friedrichs Sohn Johann Jakob, mein Urururgroßvater väterlicherseits, Schuster, lernte wahrscheinlich in Odessa den charismatischen Priester Ignaz Lindl kennen und zog mit diesem 1822 nach Bessarabien, wo er ein Mit-begründer der Mutterkolonie Sarata war.
In Odessa lernte Johann Jakob auch seine spätere Frau Magdalena Bosch (*6.12.1807 in Asselfingen, Württemberg) kennen, die mit ihren Eltern, Georg und Anna Katharina Bosch, 1820 von Württemberg nach Russland auswanderte. Johann Jakob und Magdalena heirateten in Sarata am 25. Mai 1825.
Colonie Sarata
Gegen Ende 1825 lebte das Paar zusammen mit dem Witwer Georg Bosch, dem Vater Magdalenas, in Sarata im Haus Nr. 53. In Sarata bekamen Jakob und Magdalena 4 Kinder: Elisabeth (meine Ururoma) geb. am 10.10.1830, Christian, geb. am 30.3.1834, Christine geb. am 30.8.1843 und Anna Maria, geb. am 1.7.1846. Magdalena starb 1856 und Jakob 1864, beide in Sarata.
1822 ließen sich weitere 6 Familien aus Württemberg als Handwerker in Odessa nieder. 1848 zählte die deutsche Handwerkerkolonie in Odessa 141 Familien.
der Hafen von Odessa
1817 wurde Odessa zu einem Freihafen erklärt und behielt dieses Privileg bis zum Jahr 1859. Der Getreideanbau entwickelte sich rasch und machte 1822 bereits 96% des russischen Getreideexports aus. Bis zum Jahr 1868 war der Weizenanbau für die Kolonisten dominierend geworden: Sie erzielten daraus 89% ihrer Einnahmen. Schon früh entwickelte sich hier auch ein lebhaftes kirchliches Gemeinwesen.
Bis 1819 setzte sich die kosmopolitische Stadt als wichtiges Handelszentrum und Transithafen zwischen Europa und Asien durch. Während des Krimkrieges (1853-1856) wurde die Stadt schwer von der britischen und französischen Marine bombardiert. Danach fing Odessa wieder an zu wachsen und entwickelte sich zum wichtigsten russischen Hafen für die Ausfuhr von Getreide.
Odessa um 1850
Ein Reporter der Odessaer Zeitung berichtete 1863 folgendes über Odessa:
" ….. überall, wo man hinsieht, elegante Aushängeschilder deutscher Wagenbauer, Schuhmacher, Dechsler, Schneider, Konditoren, Tischler, Bäcker, Uhrmacher, Magazinbesitzer, Photographen, Buch- und Steindruckereien".
Die beiden von deutschen geführten Hotels "Europa" und "Neurußland" gehörten zu den besten der Stadt.
1892 lebten in Odessa 9.163 und zur Zeit der ersten Volkszählung im Jahr 1897 10.248 Deutsche, die damit die fünftgrößte ethnische Gruppe nach Russen, Juden, Ukrainern und Polen bildeten.
1Bulgaren = einzelne bulgarische Familien kamen
schon 1770, 1790 und 1806 als Emigranten in die Gegend von Ismail, in den Budschak nach Südbessarabien, um Schutz vor dem Osmanischen
Reich zu finden. 1812, nach dem Bessarabien zum Russischen kam, lebten bulgarische Kolonisten in 60 Dörfern Bessarabiens.
Größere Gruppen wanderten im Rahmen der russischen Ansiedlungen nach
der endgültigen russischen Übernahme von 1812 ein. Sie ließen sich westlich von Ismajil bei der Stadt Bolgrad und auf den von
den Tataren verlassenen Gebieten im Süden nieder.
1819 erhielten die 24.000 in Bessarabien lebenden Bulgaren eine Selbstverwaltung und den Kolonistenstatus,
der mit Privilegien verbunden war. 1927 lebten zirka 150.000
Bulgaren in Bessarabien.
2 Mennoniten = Anhänger einer evangelischen Freikirche, die die Erwachsenentaufe pflegt u. den Wehrdienst u. die Eidesleistung ablehnt
3 Armand Emmanuel du Plessis, Herzog von Richelieu (*
25. September 1766 in Paris; † 17. Mai 1822) war ein französischer
Politiker, Diplomat und Royalist. Er war ein Sohn von Herzog von Fronsac
und Enkel des Marschalls de Richelieu, der Ur-Urenkel des Kardinal Richelieus.
Um
die Probleme der Französischen Revolution mit dem älteren Bruder
Joseph II. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und Herrscher der
Habsburgerländer) zu besprechen, schickte ihn die Königin Marie-Antoinette
1790 nach Wien. Bevor er eintraf starb Joseph II.
Riechelieu verblieb in Wien. Für diesen Aufenthalt wurde er in die
Liste der Émigré (französischer Begriff für royalistische
und protestantische Flüchtlinge während der Französischen
Revolution).
Zusammen mit seinem Freund Prinz Charles de Ligne trat er als
Freiwilliger in die russische Armee
ein; am 21. November erreichte er das russische Hauptquartier in Bender.
Er nahm an der Eroberung Ismails teil und erhielt von der Zarin Katharina
II das Sankt-Georgskreuz und ein goldenes Schwert.
Zar Alexander I., Nachfolger Katharinas II. und Pauls I., bot
den Émigré Offiziersstellen in seiner Armee an. Richelieu
akzeptierte und stieg zum Generalmajor auf, wurde aber durch Intrigen
von seinen Feinden zum Rücktritt
gezwungen. Auf Anfrage der russischen Regierung wurde sein Name aus der
Emigrantenliste (Liste der Personen, die während der Französischen
Revolution geflohen waren) gelöscht.
1803 wurde er Statthalter von Odessa. Zwei Jahre später wurde er
Generalstatthalter von Cherson, Jekaterinoslaw und der Krim, zu der Zeit
Neurussland genannt und kümmerte sich um alle Belange einer Region,
die sich vom Dnister bis zum Kuban erstreckte. In den elf Jahren seiner
Verwaltung wuchs Odessa von einem ärmlichen Dorf zu einer wichtigen
Stadt.
Er kommandierte im türkischen Krieg von 1806/07 eine Division
und war häufig
mit Expeditionen in den Kaukasus beschäftigt. Er organisierte den
Ausbau der Häfen und Festungen Cherson, Kinburn, Sewastopol und
Odessa.
Von 1804 bis zu seiner Abreise nach Frankreich im Jahr 1814 hatte
er die Oberaufsicht über die ausländische Kolonisation Neurussland
inne. Richelieu und Staatsrat Samuel Kontenius kümmerten sich gemeinsam,
jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit, um die Kolonisten. Diese Verbindung
bestand auch dann fort, als Richelieu 1814 Ministerpräsident Frankreichs
wurde.