Du bist in: Geschichte der russischen Leibeigenen > im 19. Jahrhundert

 

Die Leibeigenschaft in Russland

im 19. Jahrhundert

(Teil 2 von 3)

Die Abschaffung der Leibeigenschaft

P

unkt 1 des Gesetzes über die Abschaffung der Leibeigenschaft betraf die persönliche Freiheit der Bauern: „Das verbriefte Recht auf Bauern, die auf gutsherrlichen Gütern angesiedelt sind, und auf Hofgesinde wird für immer aufgehoben.1“ Die Person des Bauern wurde also für frei erklärt. Der Gutsbesitzer durfte die Bauern nun weder verkaufen, verspielen oder vererben noch sich in ihr Familienleben einmischen. Die Bauern erhielten eine Reihe staatsbürgerlicher Rechte, wie das Recht, Verträge abzuschließen, Klage zu erheben, Handel zu treiben und Gewerbe auszuüben.

Gustav Dittenberger: Alexander II. verkündet die Emanzipation der Leibeigenen
Gustav Dittenberger: Alexander II. verkündet die Emanzipation der Leibeigenen

Das Manifest des Herrschers der Bauernemanzipation wurde am 5. März im ganzen Land angeschlagen, in Kirchen und auf Marktplätzen verlesen: „Der Zar schafft die Leibeigenschaft ab!“ Nach über 200 Jahren war endlich Schluss mit den menschenunwürdigen Verhältnissen in den Dörfern.

Der Zar schafft die Leibeigenschaft ab!
Der Zar schafft die Leibeigenschaft ab!

Aber schon bald verbreitete sich Enttäuschung unter den ungebildeten, des Lesens und Schreibens unkundigen Bauern, denn sie hatten erwartet, dass der Boden jenen Familien zugesprochen wurde, die ihn bisher bearbeitet hatten. Aber es kam nicht so, denn die Gutsherren behielten vorläufig das 'Eigentumsrecht auf alles ihnen gehörende Land' und die Bauern blieben meistens noch 'zeitweilig verpflichtet', d.h. ihnen stand nur ein dauerndes Nutzrecht für eine gewisse Menge Land gegen festgesetzte Verpflichtungen (Pachtzahlungen, Frondienste und/oder Naturalleistungen) zu. Innerhalb von zwei Jahren sollte der Umfang des Bauernlandes und die Ablösesumme festgelegt werden und Fronarbeiten und Zinszahlung sollten solange bestehen bleiben. Eigens bestellte Friedensvermittler sollten über die Umsetzung der Reform vor Ort wachen.

1. Die Emancipation geht aus einer freien Übereinkunft zwischen den bisherigen Grundbesitzern und deren bisherigen Leibeigenen hervor.
2. Solange die Uebereinkunft nicht erfolgt ist, besteht die alte Leibeigenschaft fort.
3. Einen Theil der Ablösungssumme übernimmt der Staat vorschußweise.
4. Bis die ganze Summe dem Berechtigten ausbezahlt ist, bleiben die Bauern dem Gutsherrn zu gewissen festgesetzten Arbeiten verpflichtet.
5. In jedem District werden Friedensrichter ernannt, um Streitigkeiten zu schlichten.
6. Wenn alles bezahlt, werden die bisherigen Leibeigenen freie Besitzer des bisher von ihnen bebauten Bodens.

aus: Wolfgang Menzel: Allgemeine Weltgeschichte von Anfang bis jetzt: in zwölf Bänden, Band 12, Adolph Krabbe Verlag, Stuttgart, 1863 S. 359;
Grigori Grigorjewitsch Mjassojedow: Lesen des Manifestes
Grigori Grigorjewitsch Mjassojedow:
des Lesens unkundige Bauern lassen sich das Manifest vorlesen
Grigori Grigorjewitsch Mjassojedow: Sämann
Grigori Grigorjewitsch Mjassojedow: Sämann

Bei der Festlegung der Flächen gab es zum Nachteil der Bauern große regionale Unterschiede. Die Landzumessung war so be-schaffen, dass den Bauern rund ein Fünftel weniger Land blieb, als sie vor der Reform bearbeitet hatten. Da der Staat den Gutsbesitzern eine den Landwert um das Anderthalbfache über-steigende Ablösesumme gezahlt hatte, wurden die Bauern verpflichtet, diese in 49 Jahres-raten (bei einer Lebenserwartung von durchschnittlich 32 Jahren) mit Zinsen zurückzuzahlen.

Schließlich erhielten die Bauern ihre Parzellen (3,5 ha für durchschnittlich 27 Rubel pro Hektar) nicht als Privateigentum, sondern diese blieben Eigentum des Mir2, der Dorfgemeinschaft, der bis 1903 kollektiv gegenüber dem Staat und den Gutsbesitzern für die Zahlung von Steuern und Ablösegeldern haftete und so interessiert daran war, seine 'zeitverpflichteten' Mitglieder zu behalten, d.h. deren Mobilität war weiterhin eingeschränkt, denn sie durften mit Zustimmung der Gemeinde nur wegziehen, wenn sie ihren Anteil sofort bezahlen konnten oder sich mit einem kostenlosen Viertel des ihnen zuerkannten Landes begnügten. Durch die übliche periodische Umverteilung des Bodens blieben die Möglichkeiten der Bauern, selbstbestimmt zu wirtschaften, höchst begrenzt.

Valerian Babadin: an der Viehtränke
Valerian Babadin: an der Viehtränke

Die Adeligen erhielten sogar das Recht, die Bauern vor Inkrafttreten des Ukas noch umzusetzen, um ihr Gutsland nach eigenem Ermessen zu arrondieren. Zwar gab es einen „Minimalsatz“, eine Fläche Land, die das Existenzminimum sichern sollte, das am Ende aber zu wenig war, um eine Familie zu ernähren. An den alten Verhältnissen änderte sich also nichts: Der Gutsherr blieb reich, der Bauer arm und abhängig.

Enttäuschte Bauern weigerten sich, die Verordnungen als ein echtes Gesetz des Zaren anzuerkennen. Sie konnten es kaum fassen, dass der Zar ihnen 'ihr' Land verweigerte und warteten auf die Äußerung seines 'wirklichen Willens'. Oder hatte der Adel einen Absatz des 400 Druckseiten großen Manifestes unterschlagen? So fragten sie sich ratlos.
Die Bauern lehnten nicht nur die Fronarbeit ab, sondern auch die Bezahlung des Grundzinses und die Unterzeichnung der Grundbriefe, in denen die neuen Beziehungen zwischen den 'Zeitverpflichteten' und den Gutsherren festgeschrieben wurden.

Im St. Petersburger Kreise weigerten sich die Bauern auf den Gütern der Frau Kaidonow bald nach Verkündigung des Reglements, die Frohnen zu leisten. Überredung half bei ihnen nichts, aber nach Erscheinen eines Militair-Commandos auf dem Gut und nachdem 5 der widerspenstigen Bauern verhaftet waren, kehrten die übrigen zum Gehorsam zurück. Zur gleichen Zeit wurden von Seiten der Besitzerin in Übereinstimmung mit dem Reglement Maßregeln zur Erleichterung der Frohne für die Bauern getroffen. Die verhafteten Bauern wurden auf Bitten der Besitzerin wieder freigelassen......

Im Peterhofer Kreise weigerten sich die Bauern auf dem Gute des Capitains v. Weimarn die gemischte Frohnarbeit zu leisten und erklärten, für jedes Gesinde 30 Rubel zahlen, aber sonst keine Arbeit leisten zu wollen. Dasselbe erklärten die Bauern auf dem Gute des Herrn Tiran im Lugaschen Kreise und beschlossen außerdem auf einer Versammlung, daß, wer von ihnen mehr als 30 Rubel bezahlen würde, von ihrem eigenen Gericht mit 300 Ruthenhieben bestraft werden solle. Da Ermahnungen die Widerspenstigkeit der Bauern nicht zähmen konnten, so wurden auf jedes dieser Güter 2 Compagnien Militair geschickt. Laut später von dort erhaltenen Nachrichten wurde die Ordnung ohne Einschreiten des Militairs hergestellt.....

aus: Dörptsche Zeitung vom 9. Juni 1861, Nachrichten aus dem Bauernstande, St. Petersburger Gouvernement, 16. März – 17. Mai, S. 2;

Bis 1863 wurden landesweit Revolten auf fast 2.000 Gütern in 22 Gouvernements gezählt. Mit dem Geschrei 'Freiheit! Freiheit!' zogen die Bauern umher und behaupteten, der Kaiser habe ihnen volle Freiheit bewilligt, aber man wolle sie darum betrügen, erschlugen Edelleute und Beamte und mussten erst durch Militär überwältigt werden.

Besonders dauerhaft waren die Bauernaufstände im Dorf Besdna3 im Gouvernement Kasan und in Kandejewka4 im Gouvernement Pensa.

Bauernaufstand
Bauernaufstand

barra

indietro 1 2 3 avanti

1 Aus dem Vorwort zum 1929 veröffentlichten Briefwechsel zwischen Marx, Engels und dem Übersetzer des 'Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie' ins Russische, Nikolai Franzewitsch Danielson

2 Mir [eigentlich: Welt; Frieden] ist seit dem 13. Jahrhundert der Name für die russische Dorfgemeinschaft. Ihr gehörten alle Bauern eines Dorfes an. Der Mir hatte wichtige Selbstverwaltungsrechte. Er hatte einen gewählten Ältesten, den Hundertmann, und war für die gemeinsamen Angelegenheiten der Bauern zuständig. Seit dem 16. Jahrhundert führte der Mir die periodische gleichmäßige Umverteilung des von ihnen genutzten Grund und Bodens durch, wobei sich die Größe des Anteils nach der Zahl der männlichen Familienangehörigen richtete, weshalb die Geburtenrate stark anstieg und es zur Überbevölkerung auf dem Land kam und zu Unzufriedenheit. Außerdem wurden die Aussaat- und Erntezeiten und die Rhythmen der Dreifelderwirtschaft vorgegeben. Beim Übergang von der Landsteuer zur Hofsteuer im 17. Jahrhundert und schließlich bei der Einführung der Kopfsteuer im 18. Jahrhundert wurden dem Mir entsprechend der Zahl der Höfe bzw. der männlichen Seelen Steuern auferlegt. Zu den Diensten der Bauerngemeinde gehörten unter anderem die Mitwirkung bei den Revisionen und der Ablieferung der Steuern sowie die Ermittlung und Einziehung der Rekruten.
Erst 1906 erging ein kaiserlicher Ukas, der den Bauern erlaubte aus dem Mir auszutreten und eigenverantwortlich zu wirtschaften.

3 Bauernaufstand im Dorf Besdna = Die erste revolutionäre Bewegung begann im Jahr 1861 in mehr als 75 Dörfern des Spassker, des Tschistopolsker und des Laischsker Kreises im Gouvernement Kasan, wo sich die Bauern weigerten, die örtliche Verwaltung und deren Auslegung der Reformen zu akzeptieren.
Mehrere Bauern aus dem Distrikt Spassk hatten geglaubt, das kaiserliche Manifest werde ihnen volle Unabhängigkeit bringen. Als es nun erschien, fanden sich Vorleser und Erklärer, die sie in diesem Glauben bestärkten, namentlich der Bauer Anton Petrov, aus dem Dorf Besdna, der die Ankündigungen des Manifestes zu wörtlich nahm. Nach seiner Meinung sollten die Bauern nun nicht nur nicht länger für den Gutsherrn arbeiten, denn jetzt gehöre ihnen doch der ganze Boden. In wenigen Tagen hatte sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Petrov gewann rasch großen Einfluss, sandte Emissäre aus, verhieß die Freiheit, gab Land und setzte Chefs ein. Alle gütlichen Versuche, die Bauern zur Raison zu bringen, waren vergeblich. Da sammelte General Apraxin, der das Manifest in das Gouvernement gebracht hatte, einige Hundert Mann Ulanen und rückte nach Besdna, wo die Revoltanten schon auf 5.000 Mann angewachsen waren. Als die Bauern den Ermahnungen nicht Gehör gaben und eine drohende Haltung annahmen, wurde Feuer gegeben. Einige 50 Bauern wurden erschossen, einige 70 verwundet. Der Rädelsführer, der sich, als ihm die Flucht abgeschnitten war, selbst auslieferte, wurde vor ein Kriegsgericht gestellt und [am 17. (29.) April hingerichtet] erschossen. Die Ruhe ist seitdem wieder hergestellt. (aus: Deutsche Adelaider Zeitung No. 33 vom 16. August 1861, S. 3;)

4 Bauernaufstand in Kandejewka = Gleiches wiederholte sich u.a. im April auch in der Ortschaft Kandajewka im Gouvernement Pensa. Der Hauptanstifter und Leiter des Aufstandes war der zeitweilig verpflichtete Bauer des Gutsbesitzers Koshin, Leontii Jegorzew aus dem Dorf Wyssokoje. In kurzer Zeit hatte er sich einen ungeheuern Einfluss auf die Bewohner der ganzen Umgegend verschafft.
Aus den umliegenden Dörfern wurden Troikas zu ihm geschickt, damit er zu ihnen komme und das Manifest erkläre; sie trugen ihn auf den Händen und stellten ihn auf einen erhöhten Platz, von wo aus er ihnen allen Freiheit verkündigte.
Als diese Nachricht Generalmajor Drenjakin in Tschernogai erreichte, begab dieser sich sofort nach Kandejewka, wo er am 16. April mit drei Kompanien des Regiments Kasan ankam. Zwei Tage lang versuchte Drenjakin die Bauern zum Gehorsam zu überreden, ohne Erfolg. Auf die Bekanntmachung des Generalmajors, dass er schießen lassen werde, erhielt er zur Antwort: „Sie können thun, was Sie wollen.“
In dem Haufen, welcher auf der Straße stand, befanden sich gegen 1000 Menschen (im ganzen Dorf, die in den Höfen zurückgeblieben mitgerechnet, gegen 7000). Drei Salven erfolgten und nach jeder wurde versucht, die Bauern von Neuem zu überreden, allein vergebens. 12 Tote [in anderen Quellen: 8] und 26 Verwundete lagen nach diesen Salven auf dem Boden, was die Bauern überhaupt nicht beeindruckte. 410 wurden verhaftet, die anderen liefen auseinander. Der Widerstand der Bauern war so groß, dass, selbst die Verhafteten 410 Mann nicht um Gnade baten, sondern wie früher riefen: „Wir sterben lieber bis auf den letzten Mann, unterwerfen uns aber nicht!“ und zeigten erst Reue als der Rädelsführer verhaftet wurde.
Generalmajor Drenjakin blieb in Kandejewka bis zum 25. April und nahm sich persönlich der Verwaltung an. Die Rädelsführer wurden dem Gericht überliefert und nach Maßgabe ihrer Schuld bestraft.
(aus: Dörptsche Zeitung No. 97 vom 9. Juni 1861; Pfälzer Zeitung Nro. 155 vom 5. Juli 1861;

Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 3.0

CSS validoHTML valido
2007 - 2018