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Die deutsche Vorstadt im 17. Jahrhundert
(Teil 7 von 7)
A. Waznezow: Markt im 17. Jahrhundert
In der Novaja Nemeckaja Slo-boda lebten Vertreter verschie-dener Herkunftsländer mit-einander vereint: Niederländer, Schweden, Engländer, Schotten, Schweizer, Italiener, Franzosen, Dänen, Ungarn und aus vielen verschiedenen Regionen stam-mende Deutsche.
Daneben wohnte dort eine nicht unerhebliche Anzahl von Knechten und Mägden, darunter Polen, Litauer, Finnen, Türken und Tataren, mitunter sogar Afrikaner und Inder.
Gedenkmünze
der Augsburger Konfession
Die Mehrheit der Bewohner stammte allerdings aus dem protestantischen nördlichen Eu-ropa, darunter vor allem aus deutschen Regionen. Unter den Protestanten stellten die Luth-eraner der Augsburger Kon-fession1 die Mehrheit.
Die Isolation von der russischen Bevölkerung brachte einerseits einen gewissen Zwang zum Zusammenhalt untereinander mit sich und gewährte andererseits den Ausländern die Freiheit, völlig unbehindert nach ihren eigenen Gewohnheiten und Sitten zu leben.
russische Bojaren
Wie zahlreiche historische Quellen berichten, hatte sich die Auslän-dervorstadt um die Jahrhundert-mitte des 17. Jahrhunderts zu einem lebhaften Zentrum des gesellschaftlichen Lebens ent-wickelt und die erstarrte Altmoskauer "vornehme" Welt etwas „aufgelockert": Einige Bojarenhäuser, in denen man Wert auf europäisches Ansehen legte, pflegten trotz des Verbotes der orthodoxen Kirche Kontakte zu den Slobodabewohnern.
Hauspersonal scheint eine ge-wöhnliche Erscheinung in der Vorstadt gewesen zu sein. Hochrangige Militärs, Kaufleute, Diplomaten, Handwerks-meister und auch Mediziner mussten sich schon aus Statusgründen eine Dienerschaft leisten.
Der aus Aschersleben stammende Reiseschriftsteller Adam Olearius2 bezifferte sie in den 30er Jahren auf ,,an die tausend Häupter" und der Kurländer Jakob Reutenfels, der sich zwischen 1645 und 1676 mehrmals in der deutschen Vorstadt aufhielt, schätzte die Gesamtzahl der Slobodabewohner mit den bereits in Russland Geborenen auf 1.500, was in etwa einer damaligen mittelgroßen deutschen Stadt entsprach.
Nach Angaben von Reutenfels wohnten zu Beginn der 1680er Jahre in ganz Russland etwa 18.000 Deutsche.
Ende des 17. Jahrhunderts gab es in der Nemezkaja Sloboda3 zwei protestantische, eine holländische und eine katholische Kirche, alle mit eigenen Kirchengemeinden. Es gab drei Märkte, Verkaufsstände für russische und ausländische Waren und sogar deutsche Kneipen.
Die Sloboda besaß für die damaligen Verhältnisse in Russland ein vor-bildlich entwickeltes Schulwesen und Kirchenleben. Um 1670 nahm die deutsche Schule auch polnische, türkische und tatarische Kinder auf.
Peter der Große
Die Deutschen in Russland hatten es nicht immer leicht und die unbeständige Gunst der Moskauer Herrscher Ausländern gegenüber lässt sich auch in den nächsten Jahrhunderten erkennen.
Die Blütezeit der deutschen Stadt-bevölkerung in Russland begann jedoch unter dem Reformzar Peter dem Großen (1682 - 1725), dessen Weltbild sich im wesentlichen unter dem Einfluss der Moskauer Ausländerkolonie formte.
Lefortowo in Moskau
Im 19. Jahrhundert wurde auch der Name „Deutsche Sloboda“ ersetzt. Dieses Stadtviertel heute im Südosten von Moskau gelegen, heißt jetzt „Lefortowo“ und erhielt seinen Namen nach dem Schweizer Admiral François Lefort, einem Vertrauten und Freund Peters des Großen.
1 Die Augsburger Konfession, lateinisch Confessio Augustana
ist das Bekenntnis, das der Reformator Philipp Melanchthon für den
Reichstag in Augsburg verfasste und am 25. Juni 1530 vor Reichstag und
Kaiser verlas. Es ist die wichtigste Bekenntnisschrift der reformatorischen
Kirchen.
In seiner heutigen Form besteht das Augsburger Konfession aus 28 Artikeln,
von denen die ersten 21 die Lehre Martin Luthers darlegen, insbesondere
seine Lehre von der Rechtfertigung. Die restlichen Artikel befassen sich
mit den Missbräuchen in der katholischen Kirche. In der Apologie der
Confessio Augustana reichte Melanchthon die theologische Basis des Bekenntnisses
nach.
2 Adam
Olearius (*1599 in Aschersleben † 1671 Schloss
Gottorf/Schleswig) war Gelehrter und Handelsdiplomat. Nach seinem Studium
der Theologie, Philosophie und Mathematik in Leipzig gelangte der junge
Gelehrte 1633 an den Hof des Herzogs Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf.
Der Herzog, der eine wirtschaftliche Anbindung Norddeutschlands mit Persien und Russland
plante, stattete eine Gesandtschaft aus, die am 6. November 1633 in Hamburg
abfuhr. Das erste Ziel dieser Delegation war Moskau, wo sie mit Zar Michael
I. ein Handelsabkommen abschließen wollte. Da der Zar aber äußerst
unrealistische Vorstellungen darüber hatte, scheiterte die Gesandtschaft
in ihrem eigentlichem Auftrag.
Über seine Reise berichtete Adam Ölschläger, wie Olearius er eigentlich
hieß, in Moskowitische und persische Reise: die holsteinische Gesandtschaft
1633-1639, die 1647 erstmals in Deutsch erschien. Nach Herbersteins
Reisebeschreibungen war dies der bedeutendste Bericht über Russland.
3 Nemezkaja sloboda = deutsche Vorstadt; obwohl dort Angehörige der verschiedensten Nationen lebten. Nmezkij kommt von nemoj (stumm); so nannte man alle, die nicht des Russischen mächtig waren, später wurde es vor allem auf Deutsche bezogen. Diese Ausländer genossen russisches Bürgerrecht und unterstanden den allgemeinen Gesetzen, hatten aber einige Sonderrechte, z. B. hinsichtlich der Selbstverwaltung und der Glaubensausübung. Letzteres blieb ihnen auch später erhalten. Im 19. Jahrhundert entstand hier ein Viertel reicher Kaufleute und Fabrikanten.