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Die Hungersnot von 1932/331

Um die Hungerpolitik vor dem Rest der Welt zu verschleiern, exportierte die Sowjetunion ihre landwirtschaftlichen Produkte ins Ausland.
Während im Jahr 1932 rund 1,6 Millionen Tonnen Getreide exportiert wurden, stiegen diese im Jahr 1933 um 30 Prozent an. Der Holodomor führte in der Sowjetukraine zu einer Ausrottung von 20 bis 25 Prozent der Gesamt-bevölkerung.

Denkmal für die Opfer des Holodomor in Obuchiw in der Zentralukraine
Denkmal für die Opfer des Holodomor in Obuchiw in der Zentralukraine
(symbolisch hält das Kind einige Ähren in der Hand)

Die Weltöffentlichkeit reagierte kaum auf das Geschehen in der Sowjetunion. Es gab nur wenige Zeitungsberichte und diplomatische Reaktionen blieben aus. Die Sowjetunion selbst zensierte die wahrheitsgemäße Berichterstattung.

Am 15. April 1932 berichtete die Rigasche Rundschau, dass die Hungersnot in Sowjetrussland mit jedem Tag schärfere Formen annimmt. Ein reichsdeutscher Chemiker, der sieben Monate in einer riesigen Fabrik für Giftgase des „Chimtrest" im Uralgebiet beschäftigt war und zusammen mit seiner Frau über Riga in die Heimat zurückreiste, berichte:


 „... Ich mußte häufig Perm und die anderen umliegenden Städte besuchen. Jedesmal waren in Perm Hunderte von Leuten bei der Durchwühlung von Müllkästen und Abfallgruben nach genießbaren Gegenständen zu sehen. In Speisehäusern und Lebensmittelgeschäften gab es nicht selten Schlägereien um einen Teller Suppe oder um einen genießbaren Gegenstand. Es kommt vor, daß schon einer dem anderen, von Hunger getrieben, Eßwaren aus der Hand reißt. In den sieben Monaten meines Aufenthaltes in Rußland habe ich weder Weißbrot noch ein Stück Wurst zu Gesicht bekommen... Im besten Gasthaus Perms war nichts Eßbares zu erlangen. ....“

aus: Große Rußlandflucht deutscher Fachleute in: Rigasche Rundschau, Nr. 83 vom 15. April 1932, S. 7;


 „Wie Warschauer Blätter berichten, laufen aus fast allen Gebieten der Ukraine aufregende Meldungen über eine Hungersnot ein. Am schlimmsten sei es um die Einwohnerschaft des rechten Dnjepr-Ufers bestellt. In einigen Städten würden dort täglich Todesfälle wegen Hunger registriert. Die Miliz sammle die auf den Straßen zusammenbrechenden verhungerten Bürger auf. Auch die Fabriksarbeiter seien sehr schlecht mit Lebensmitteln versorgt; täglich komme es zu Zusammenstößen mit den Administrations-Instanzen. Der einstimmige Ruf der Einwohner der Ukraine laute: „Zuerst schafft uns Brot und Kartoffeln, nachher wollen wir dann vom Fünfjahrplan reden.“

aus: Hunger in der Ukraine, Nachrichten Warschauer Blätter in: Rigasche Rundschau, Nr. 131 vom 14. Juni 1932, S. 2;
New Yorker Evening Post vom 29. März 1933
New York Evening am 29. März 1933:
Die Hungersnot hat Russland im Griff, Millionen sterben, .....

Ende März 1933 berichtete die Tageszeitung New York Evening mit dem Titel Die Hungersnot hat Russland im Griff, Millionen sterben ... über Art und Ausmaß der Hungersnot, aber wiederum geschah nichts.

Die ukrainische Bevölkerung wurde vor den Augen der Welt vernichtet. Allein im Jahr 1933 verhungerten Millionen von Menschen in der Ukraine.
In der Geschichte der Menschheit hat es niemals ein wirkungsvolleres Ausrottungsprogramm gegeben, als das in den Jahren 1932/33.


Berliner Tageblatt vom 1. April 1933: Hungersnot in Russland?

Das deutsche Konsulat in Odessa beschrieb am 6. Dezember 1933 in seinem Jahresbericht das traurige Schicksal der "Kulaken"2, diese „wirtschaftlich und kulturell wertvollsten Elemente der deutschen Dörfer im Amtsbezirk dieses Konsulats“:

 
„...Soweit sie nicht gestorben, verschickt oder im Gefängnis seien, fristeten sie ein kümmerliches Dasein als Tagelöhner oder Arbeiter, vielfach ohne festen Wohnsitz, als „Paßlose“ bald hier, bald da kurzfristigen Verdienst suchend. Auch die Aktion „Brüder in Not“ werde diese Menschen nicht vor dem Untergang retten.“3

Hindenburg und Hitler im Mai 1933
Hindenburg und Hitler im Mai 1933

In Deutschland führte es zu einer Wiederbelebung des schon 19254 gegründeten Hilfswerks "Brüder in Not". Bei den Banken wurde dafür ein gleichnamiges Konto eingerichtet. Unter den ersten Spendern zahlten auf dieses Konto je 1.000 Mark Reichspräsident Paul v. Hindenburg und Reichskanzler Adolf Hitler ein. Die deutsche Reichsregierung stellte als Hilfe für die Hungernden 17 Millionen Mark bereit. Bis Ende 1933 konnten so 500.000 Reichsmark gesammelt werden. Aber die sowjetische Regierung wies die Spende ab August 1934 zurück und erklärte, in der UdSSR gebe es keinen Hunger. Die von Deutschland entfesselte Kampagne habe lediglich verleumderische Ziele.


 „Die Sowjetregierung hat bekanntgegeben, daß sie Sendungen der Sammlung „Brüder in Not“ nach der Sowjetunion nicht mehr zuläßt. Sie hat sich hierbei darauf berufen, daß „Brüder in Not“ eine antisowjetische Organisation sei.
Das deutsche Hilfswerk bedauert außerordentlich, daß seine rein caritative Tätigkeit, an der es stets festgehalten hat, auf diese Weise zum Stillstand kommen wird. ...“

aus: Hilfswerk „Brüder in Not“ von den Sowjets verboten in: Rigasche Rundschau Nr. 181 vom 13. August 1934, S. 2;

Die Verwaltung des NKWD5 drohte Sofortmaßnahmen an, wenn ''faschistische Elemente'' Spenden aus Deutschland in der UdSSR verteilen sollten. Diejenigen sollten ebenso bestraft werden, wie diejenigen, die die Hilfe empfangen sollten.

So wurde der Bauer Sebastian Klein hingerichtet, weil er in einem Bittbrief nach Deutschland um Hilfe bat und 49,90 Reichsmark angenommen hatte.

Denkmal für die Opfer des Holodomor, 1932-33 in Kiew
Denkmal für die Opfer des Holodomor,
1932-33 in Kiew
(in der Hand hält das Kind symbolisch einige Ähren)

Die genaue Zahl der Opfer läßt sich nur schwer bestimmen oder wird sich wahrscheinlich niemals ermitteln lassen, da standesamtliche Einträge während des Bestehens der Sowjetunion unvollständig geführt wurden und die Behörden von Anfang an angewiesen wurden, die Hungeropfer nicht zu dokumentieren. Sogar die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 wurden zum Staatsgeheimnis erklärt und die leitenden Mitarbeiter der Volkszählung verschwanden als Saboteure und Volksfeinde im Gulag.
Personen, die sich während der gesamtsowjetischen Volkszählung 1937 mit dem starken Rückgang der Bevölkerungszahl in der Ukrainischen Sowjetrepublik infolge der Hungersnot beschäftigten, wurden auf Anordnung Stalins erschossen.

Erst nach dem Ende des Sowjetsystems wurden die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 zugänglich. Anhand der Zahlen der Volkszählung von 1937 und 1939 wird die Zahl der Toten auf 4 Millionen Ukrainer geschätzt. In anderen landwirtschaftlichen Gebieten der Sowjetunion starben demnach weitere 2 Millionen Menschen durch die künstlich verursachte Hungersnot.

Die Säuberungswelle in der Ukraine im Jahr 1933 war die umfassendste und blutigste, die bislang über die Sowjetunion hinweggegangen war. Sie traf außer "Kulaken" und zahlungsunfähige Landwirte, auch die ukrainischen Schriftsteller und Künstler, Lehrer und Wissenschaftler.
Die Liquidierung der obersten ukrainischen Führung verschob Stalin auf die Jahre 1937 bis 1939. Im Zuge der Stalinschen Repressionen wurden mehrere Tausende Personen verhaftet und deportiert oder im Odessaer Gefängnis gefoltert und danach erschossen. Hier geht es weiter zur Exekutionsliste.

Niemand wollte sterben (unbekannter Künstler), Ende der 1980er Jahre
Niemand wollte sterben (unbekannter Künstler), Ende der 1980er Jahre
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Anmerkungen

1 Quellen:
Viktor Timtschenko: Ukraine: Einblicke in den neuen Osten Europas, Christoph Links Verlag, Berlin, 2009.
Stéphane Courtois und Co-Autoren: Die Große Hungersnot in: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror“, Piper Verlag, München, 2004, S. 178 – 188;
Gerhard Simon: Der Holodomor als Völkermord. Tatsachen und Kontroversen. Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion Referat bei der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“, Mannheim 24. November 2007;
Der Dokumentarfilm "The Soviet Story" unter der Regie von Edvīns Šnore, 2008;

2 Kulak = Bezeichnung für den russischen Mittel- und Großbauern aber auch eine abfällige Bezeichnung der wohlhabenden Bauern auf dem Lande. Kulak, was wörtlich übersetzt “Faust“ bedeutet (jemand, der seinen Besitz fest in den Fäusten hält), wird im Sinne von “Wucherer“ oder “Dorfkapitalist“ gebraucht. Jemanden, der kleine Bauern und seinen in Not geratenen Nachbarn um Hab und Gut gebracht hatte.
Nach der Oktoberrevolution von 1917  und im Verlauf der Kollektivierungsmaßnahmen (1929/30) unter Stalin wurde der Begriff Kulak zum Schimpfwort und auf alle angeblichen 'Ausbeuter' in der Landwirtschaft ausgedehnt und als feindliche 'Klasse' liquidiert. Auch Witwen und alte Bauern fielen unter diese Kategorie, weil sie einen Knecht oder eine Magd beschäftigten.
1919 war ein Kulak der, der zwei Häuser mit Blechdach, mehr als fünf Kühe oder Pferde oder mehr als 20 Schafe besaß. Auf dem Höhepunkt der Kollektivierung (1932) bedeutete bereits geringfügiges landwirtschaftliches Eigentum, wie zum Beispiel eine Kuh oder die Beschäftigung von Tagelöhnern oder Mägden und Knechten als Kulakentum und führte zu Zwangsmaßnahmen: Schon seit 1927 mussten sie höhere Steurn bezahlen und bekamen keine Kredite oder Geräte mehr. Viele verkleinerten ihre Anbaufläche und ihren Viehbestand, um kein 'Kulak' mehr zu sein, was dazu führte, dass bald Getreide für den Export und zur Versorgung der Städte fehlte.
Im Herbst 1929 wurde es den Kulaken verboten, in die entstehenden Kollektive einzutreten, weil man dort ihre Meinungsführerschaft fürchtete, was dann zu Enteignung und schließlich zu Deportation in menschenleere Gebiete oder in den Gulag führte. Oft wurden auch die Familienangehörigen der 'Kulaken' und sogar angebliche Kulakensöldlinge verfolgt.
Auf der Grundlage der Beschlüsse des Zentralexekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare vom 30. Januar und 1. Februar 1930 und einer Instruktion vom 4. Februar wurden alle Kulaken in drei Kategorien eingeteilt: die Bauern der 1. Kategorie galten als 'konterrevolutionäre Elemente', die sofern sie Anzeichen fortgesetzten Widerstands zeigten, entweder gleich erschossen, oder in ein Arbeitslager der GPU (Staatssicherheitsdienst) gebracht wurden. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt und ihre Angehörigen fielen unter die Deportierten.
Die Kulaken der 2. Kategorie waren zwar weniger gefährlich, galten aber als 'fürchterliche Ausbeuter'. Sie wurden enteignet, verhaftet und mit ihren Familien in entlegene Gebiete deportiert.
Die Kulaken der 3. Kategorie galten als 'staatstreu, wurden enteignet und in unfruchtbare, unkultivierte Zonen ihrer Distrikte umgesiedelt.

3 PAAA. Botschaft Moskau 349. Jahresberichte des Deutschen Konsulats in Odessa. 12.30 bis 12.34, S. 13 ff;

4 aus: Brüder in Not in: Rigasche Rundschau Nr. 150 vom 11. Juli 1925, S. 2;

5 Der NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) wurde 1934 als sowjetisches Unionsministerium gebildet, dem als wichtigstes Ressort die GPU (politische Geheimpolizei der Sowjetunion) eingegliedert wurde. Zuständig v. a. für politische Überwachung, Nachrichtendienst, politische Strafjustiz, Verwaltung der Straf- und Verbannungslager (GULag) und Grenzschutz war er das Instrument des stalinistischen Terrors zur Zeit der Großen Tschistka (Säuberung).