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Die Hungersnot von 1932/331

Hungersnot in Russland 1933
Hungersnot in Russland 1933
A = getreidekonsumierendes Gebiet
B = getreideproduzierendes Gebiet

Nachdem alle Nahrungsmittelvorräte Ende 1932 aus der Ukraine fortgeschafft worden waren, waren Millionen von Bauern aus den reichsten Agrargebieten der Sowjetunion dem Hunger ausgesetzt.

Der englische Journalist Moore, der 1932 die Sowjetunion besuchte, berichtete bei seiner Rückkehr:


„... Die augenfälligste Erscheinung in der Sowjet-union, die auch dem oberflächlichsten Beobachter auffällt, ist der Mangel an Lebensmitteln. In Rußland, der einstigen Kornkammer der Welt, droht im kommenden Winter eine Hungersnot, wie sie seit der furchtbaren Hungerkatastrophe im Jahre 1921 nicht mehr erlebt worden ist. Von der Hungersnot werden in erster Linie der nördliche Kaukasus, die Ukraine, das linke Wolgaufer — insbesondere die einst so reiche deutsche Wolgarepublik — und schließlich Westsibirien betroffen werden, also gerade die fruchtbarsten Gebiete der Sowjetunion....
Im nördlichen Kaukasus hatte ich Gelegenheit eine Kollektivwirtschaft zu besuchen und eine Arbeitergrnppe zu sprechen. Auf meine Frage „Was bekommt ihr jetzt zu essen? erhielt ich die Antwort „In unserem Kollektiv gibt es nicht einen einziges Laib Brot, wir baben jedoch noch etwas Mais und Gemiise." Dieses Gespräch fand im Oktober [1932] statt, als die Gärten in diesem südlichen Gebiet noch voller Obst und Gemüse waren...
In den Städten hat der Mangel an Lebensmitteln noch nicht so scharfe Formen angenommen. Brot nnd Kartoffeln in begrenzten Mengen kann man noch gegen Karten in den Genossenschaften erhalten, aber auch diese mageren Portionen erhält man nur, nachdem man mehrere Stunden vor den Geschäften „Schlange“ gestanden hat. Ich erinnere mich an einen Laden in Leningrad, in dem nichts anderes als eine Büste Lenins zu finden war, die von beiden Seiten durch 2 Säckchen mit rotem Pfeffer flankiert war. Ein Plakat trug die Aufschrift: „In diesem Laden werden nur Lebensmittel für Binder verabfolgt?“ Auch die Versorgung der Arbeiter ist keineswegs befriedigend. In den meisten Fabriken gibt es 4 Klassen von Speisehallen. In den erstklassigen erhält man gewöhnlich gute und schmackhafte Speisen. Diese Speisehallen bezw. Restaurauts sind jedoch nur besonders privilegierten Personen zugänglich, wie ausländischen Spezialisten und Direktoren der Fabriken. Für die Masse der unqualifizierten Arbeiter dagegen stellt eine magere Suppe ohne Fleisch die übliche Mahlzeit dar. In Charkow erzählten mir einige Arbeiter, daß sie Fleisch schon seit 2 Jahren nicht mehr gesehen hätten. Auf dem sogenannten „freien Markt“ sind die Preise unerschwinglich.

aus: Die Lage im Sowjetstaat in: Libauische Zeitung Nr. 269 vom 28. Januar 1932, S. 1;

Viele sahen ihre einzige Überlebenschance in der Abwanderung in besser versorgte Großstädte.

massenweise in die Stadt
massenweise flüchteten die Personen in die Städte

„... Der Flüchtling H. aus Orenburg, der Sowjetrußland Ende Juni [1933] verlassen hat, schilderte die Verhältnisse in den Städten. Sie seien hier noch weit günstiger als auf dem Lande, denn man bekam doch immer mit Hilfe langen Anftehens 250—300 Gramm Brot pro Familie. Jeder fünfte Tag war ein Hungertag.
Die Kirgisen im Orenburger Gebiet dagegen waren schon zu 75 Prozent ausgestorben, nachdem man sie ihrer Herden und damit ihrer Daseinsmöglichkeit beraubt hatte. Die Hauptnahrung der einst wohlhabenden deutschen Wolga-Bauern waren im Sommer Zieselmäuse und Schilf...“

aus: Die Hungersnot in der Sowjetunion in Libauische Zeitung Nr. 192 vom 29. August 1933, S. 3;

Aber den Verzweifelten wurde auch die Abwanderung in die Städte verboten. Um die Landflucht zu begrenzen, "das soziale Schmarotzertum auszumerzen" und "die kulakische Unterwanderung der Städte zu bekämpfen", führte die Regierung am 27. Dezember 1932 den Inlandspass und die Zwangsregistrierung für alle Stadtbewohner ein.

Die Passportisierung dauerte ein Jahr und bis Ende 1933 waren 27 Millionen Reisepässe ausgestellt worden. Die Auswirkung der Passportisierung war, dass die Behörden die Städte von unerwünschten Elementen "säubern" durften. Diese Säuberungsaktion begann in Moskau am 5. Januar 1933. Innerhalb der ersten Woche wurden 3.450 ehemalige Weißgardisten, Ex-Kulaken und andere kriminelle Elemente "aufgespürt".
Fast 385.000 Menschen wurden die Pässe abgelehnt und gezwungen, ihre Häuser innerhalb von zehn Tagen zu verlassen.

Vertriebene
Vertriebene

Darüber hinaus wurde ihnen der Wohnsitz in jeder anderen Stadt untersagt, auch wenn es einen "offene" war.
Der Leiter der Reisepassabteilung des NKWD2 bemerkte in seinem Bericht am 13. August 1934, dass zu dieser Zahl all diejenigen hinzugefügt werden müssen, die es vorzogen, die Städte aus eigenem Antrieb zu verlassen, als die Passportisierung erst angekündigt war, da sie schon wussten, dass ihnen in jedem Fall ein Reisepass verweigert werden würde. In Magnitogorsk beispielsweise verließen die Stadt sofort fast 35.000 Personen ... In Moskau, während der ersten zwei Monate des Unternehmens, sank die Bevölkerung um 60.000. In Leningrad verschwanden in einem einzigen Monat 54.000 Menschen aufs Land und ungefähr 42.000 Personen wurden aus den offenen Städten vertrieben."

aus: S. Courtois, N. Werth, J. Panne, A. Paczkowski, K. Bartosek, J. Margolin: The Black Book of Communism: Crimes, Terror, Repression, Harvard University Press, 1999, S. 167;
ein ehemaliger Kulake mit bettelnden Kindern
ein ehemaliger Kulake mit bettelnden Kindern

Im Blick auf die Massenflucht der um ihr Überleben kämpfenden Bauern gab die Regierung am 22. Januar 1933 ein Rundschreiben heraus, das für Millionen Hungernde den sicheren Tod bedeuten sollte. Das von Stalin und Molotow unterzeichnete Schreiben befahl den Lokalbehörden und insbesondere der GPU, „die Massenabwanderung der ukrainischen und nordkaukasischen Bauern in die Städte“ zu verbieten. „Die konterrevolutionären Elemente sind zu verhaften, und die übrigen Flüchtlinge in ihre Wohnorte zurückzubringen.“ Das Rundschreiben hatte folgende Erklärung für die Lage: „Das Zentralkomitee und die Regierung haben Beweise dafür, daß die Massenflucht der Bauern von den Gegnern der Sowjetmacht, den Konterrevolutionären und den polnischen Agenten, organisiert worden ist. Ihr Ziel ist eine Propaganda gegen das Kolchosesystem im besonderen und die Sowjetmacht im allgemeinen.

aus: S. Courtois, N. Werth, J. Panne, A. Paczkowski, K. Bartosek, J. Margolin: The Black Book of Communism: Crimes, Terror, Repression, Harvard University Press, 1999, S. 164;

Binnen sechs Wochen nach der Veröffentlichung dieser Direktive saßen bereits ca. 220.000 Personen in Haft und mehr als 186.000 Personen wurden von Einheiten des Strafkommandos in ihre Häuser und Dörfer zurückgebracht, was einem Todesurteil gleich kam.

In allen von der Hungersnot betroffenen Gebieten wurde der Verkauf von Bahnfahrkarten sofort eingestellt und spezielle Wachtrupps hinterten die hungernden, sterbenden Menschen daran, in die Züge zu steigen. Viele von ihnen starben noch auf den Bahnhöfen.


Viele von ihnen starben auf den Bahnhöfen
Viele von ihnen starben auf den Bahnhöfen

Mehrere Hunderttausend Menschen, die es geschafft hatten, in die Städte zu fliehen, wurden von dort wieder vertrieben.
Tausende von Kindern, die von ihren Eltern in die Städte gebracht worden waren und dort in der Hoffnung ausgesetzt wurden, jemand werde sich ihrer annehmen, wurden von der Sondereinheit "zur Beseitigung der Kinder" auf den Straßen eingesammelt und außerhalb den Städten auf freiem Feld ausgesetzt.

Hierzu ein Augenzeugenbericht des italienischen Konsuls von Charkow:

Kinder mit Hungerbäuchen
Kinder mit gedunsenen Kinderleibern,
Streichhölzchenbeinen, toternste Gesichter
und weit aufgerissene Augen

 „Seit einer Woche wurde ein Dienst organisiert, um die ausgesetzten Kinder einzusammeln. Denn neben den Bauern, die in die Städte strömen, weil sie auf dem Lande keine Möglichkeit mehr zum Überleben haben, gibt es auch Kinder, die hierhergebracht und dann von den Eltern, die zum Sterben in ihre Dörfer zurückkehren, in der Hoffnung ausgesetzt werden, daß irgend jemand in der Stadt sich ihrer Nachkommenschaft annimmt. Seit einer Woche hat man dvorniki (Concierge) organisiert, die in weißen Blusen durch die Stadt patrouillieren und die Kinder zum nächstgelegenen Polizeiposten bringen. […] Gegen Mitternacht bringt man sie in Lastwagen zum Güterbahnhof von Severo Donetz. Auch die in den Bahnhöfen und Zügen aufgelesenen Kinder und die tagsüber in der Stadt aufgegriffenen Bauernfamilien und älteren Einzelpersonen werden dort zusammengetrieben. Das Sanitätspersonal ist mit der „Selektion“ beauftragt. Diejenigen, die noch nicht aufgedunsen sind und eine Chance zum Überleben haben, kommen in die Barackenlager von Holodnaja Gora, wo ein Volk von 8000 Seelen, meistens Kinder, auf den Strohlagern der Lagerhallen mit dem Tode kämpft. […] Die Aufgedunsenen werden mit Güterzügen aufs Land hinausgefahren und 50 bis 60 Kilometer hinter der Stadt ausgesetzt, wo sie sterben, ohne daß man sie sieht. […] Sofort nach der Ankunft an den Stellen, an denen entladen wird, werden große Gruben ausgehoben, und die Toten aus den Waggons herausgeholt.“

aus: S. Courtois, N. Werth, J. Panne, A. Paczkowski, K. Bartosek, J. Margolin: The Black Book of Communism: Crimes, Terror, Repression, Harvard University Press, 1999, S. 164;
Denkmal für die Opfer des Holodomor in Khoruzhivka in der Nordostukraine
Khoruzhivka in der Nordostukraine: vor der St. Varvara-Kirche
Denkmal für die Opfer des Holodomor
(symbolisch hält das Kind einige Ähren in der Hand)

Zusammen mit dem Hunger brachen Seuchen (Typhus) in der geschwächten Bevölkerung aus. Im Frühjahr 1933 erreichte die Sterblichkeit ihren Höhepunkt. Während Millionen verhungerten, exportierte die Sowjetunion ihre landwirtschaftlichen Produkte ins Ausland, um die Hungerpolitik vor dem Rest der Welt zu verschleiern. Die Exporte von 1,6 Millionen Tonnen Getreide im Jahr 1932 stiegen im Jahr 1933 um 30 Prozent. Der Holodomor führte in der Sowjetukraine zu einer Ausrottung von 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Anfang März 1933 meldete ein Bericht der GPU, dass im Rahmen der Operationen gegen die Abwanderung der Bauern in die Städte innerhalb eines Monats 219.460 Personen aufgegriffen worden seien. 186.588 von ihnen seien „in ihre Heimatregion zurückgebracht“, die anderen festgenommen und verurteilt worden. Über den Zustand der aus den Städten Vertriebenen schweigt der Bericht.

 

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Anmerkungen

1 Quellen:
Viktor Timtschenko: Ukraine: Einblicke in den neuen Osten Europas, Christoph Links Verlag, Berlin, 2009.
Stéphane Courtois und Co-Autoren: Die Große Hungersnot in: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror“, Piper Verlag, München, 2004, S. 178 – 188;
Gerhard Simon: Der Holodomor als Völkermord. Tatsachen und Kontroversen. Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion Referat bei der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“, Mannheim 24. November 2007;
Der Dokumentarfilm "The Soviet Story" unter der Regie von Edvīns Šnore, 2008;

2 Der NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) wurde 1934 als sowjetisches Unionsministerium gebildet, dem als wichtigstes Ressort die GPU (politische Geheimpolizei der Sowjetunion) eingegliedert wurde. Zuständig v. a. für politische Überwachung, Nachrichtendienst, politische Strafjustiz, Verwaltung der Straf- und Verbannungslager (GULag) und Grenzschutz war er das Instrument des stalinistischen Terrors zur Zeit der Großen Tschistka (Säuberung).