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Die Hungersnot von 1932/331

ein Kind beim Aufsammeln von Ähren
ein Kind,
das beim Ährenaufsammeln erwischt wurde

Viele verloren die Angst vor der Gefahr und gingen auf die vom NKWD2 bewachten Kolchosefelder, um einige Ähren aufzusammeln, was ihnen nach dem "Gesetz zum Schutz des sozialistischen Eigen-tums" vom 7. August 1932, im Volksmund ''Ährengesetz'' oder "Gesetz der drei (fünf) Ährchen" genannt, das Leben kosten konnte, denn sie wurden wegen Diebstahls von Staatseigentum im Schnell-verfahren (an Ort und Stelle) zum Tode verurteilt und sofort er-schossen oder vor ein Schnellgericht gestellt und auf nicht unter zehn Jahre Freiheitsstrafe verurteilt.

von der NKWD bewachte Felder
von der NKWD bewachte Felder

Allein im November 1932, dem ersten Monat des "Kampfes gegen die Sabotage", wurden sowohl Kolchosebauern festgenommen, als auch Dorfkommunisten, die man gegenüber der "Sabotage" der Steuereinzugskampagne "in krimineller Weise nachsichtig" fand und Leiter der Kolchosen, die im Verdacht standen, "die Produktion geschmälert" zu haben.

beim Ährensammeln erschossen
beim Ährensammeln erschossen

Das "Gesetz zum Schutz des sozialistischen Eigentums" führte zu massenhaften Verhaftungen und Erschießungen von allen "Sabo-teuren", "fremden Elementen" und "Konterrevolutionären“ unter der Leitung der GPU.

Nach dem ''Ährengesetz'' wurden auch Kinder verurteilt, die einige Weizenähren auf den Feldern aufsammelten, die unlängst ihren Vätern gehört hatten.

 „... Alle Gefängnisse sind brechend voll. Im Gefängnis von Balachevo sitzen schon fünfmal so viele Leute, die ursprünglich für das Gefängnis vorgesehen, und in Elan sitzen 610 Leute in dem kleinen Distriktgefängnis. Im Laufe des letzten Monats hat das Gefängnis von Balachevo 78 Verurteilte an Elan „abgegeben“, 48 von ihnen waren noch keine zehn Jahre alt; 21 wurden sofort freigelassen. …“

aus: S. Courtois, N. Werth, J. Panne, A. Paczkowski, K. Bartosek, J. Margolin: The Black Book of Communism: Crimes, Terror, Repression, Harvard University Press, 1999, S. 161;

Der Hunger nahm erschreckende Ausmaße an. Die Bauern aßen alle Surrogate, wie Blätter, Gras, Katzen, Hunde, Pferde, Ratten, Frösche und Kadaver von anderen Tieren.

Iwan Wladimirow: Der Hunger, 1919
Iwan Wladimirow: Der Hunger, 1919
Kannibalismus während des Holodomors
Kannibalismus während des Holodomors

Unter den Betroffenen die vor Hunger in den Wahnsinn getrieben wurden, kam es auch zu Fällen von Kannibalismus. Die Leichen der Toten wurden wieder aus ihren Gäbern gezogen.

 „ ...Im einst so reichen Wolgagebiet und in der Ukraine gibt es jetzt nichts mehr zu essen. Einige der geflüchteten [deutschen] Bauern erzählen ihre furchtbaren Erlebnisse. So hat einer von ihnen gesehen, wie eine Mutter vor Hunger irrsinnig wurde, ihre beiden Kinder tötete und sie verspeiste. An einer anderen Stelle hatten Bauern vom Hunger getrieben soeben bestattete Leichen ausgegraben und verspeist. Auf dem Marktplatz einer Kreisstadt lagen einige Hundert dem Hnngertode geweihte Bauern und niemand kümmerte sich um sie....“

aus: Die Hungersnot in Sowjetrußland, Die furchtbaren Schilderungen deutscher Flüchtlinge aus der Sowjetunion in: Libauische Zeitung Nr.148 vom 8. Juli 1933, S. 2;

Zusammen mit dem Hunger brachen Seuchen (Typhus) in der geschwächten Bevölkerung aus. Im Frühjahr 1933 erreichte die Sterblichkeit ihren Höhepunkt. In Städten mit einer Bevölkerungszahl von mehreren Tausend gab es manchmal weniger als zwei Dutzend Überlebende.
Während die Bauern verhungerten, exportierte die Sowjetunion ihre landwirtschaftlichen Produkte ins Ausland: Die Exporte von 1,6 Millionen Tonnen Getreide im Jahr 1932 stiegen im Jahr 1933 um 30 Prozent.

Fälle von Kannibalismus wurden sowohl in GPU-Berichten als auch in italienischen diplomatischen Bulletins von Charkiw aufgezeichnet:

 „... Jede Nacht werden Leichen von mehr als 250 Menschen eingesammelt, die an Hunger oder an Typhus gestorben sind. Vielen diesen Körpern wurde durch ein großer Schlitz im Unterleib die Leber entfernt. Schließlich wurden einige von diesen mysteriösen "Amputatoren", geschnappt, die zugaben, dass sie das Fleisch als Füllung für Fleischpasteten verwenden, die sie dann auf dem Markt verkaufen."

aus: S. Courtois, N. Werth, J. Panne, A. Paczkowski, K. Bartosek, J. Margolin: The Black Book of Communism: Crimes, Terror, Repression, Harvard University Press, 1999, S. 165;

In Charkiw z. B. wurden die Bauern gegenüber dem 'Tagesphänomen' Tod so gleichgültig, dass sie ungeindert vorbeigingen.

Charkiw 1933
Charkiw 1933, niemand achtet mehr auf die Toten am Straßenrand

Der Kannibalismus war so weit verbreitet, dass die Regierung Plakate drucken ließ: „Das Essen der eigenen Kinder ist ein Akt der Barbarei.

aus: S. Courtois, N. Werth, J. Panne, A. Paczkowski, K. Bartosek, J. Margolin: The Black Book of Communism: Crimes, Terror, Repression, Harvard University Press, 1999, S. 202;
die meisten starben zu Hause
die meisten der Opfer starben zu Hause

Tausende von Kindern wurden von ihren Eltern in die Städte gebracht und dort ausgesetzt, in der Hoffnung, jemand werde sich ihrer annehmen. Zur Beseitigung der Kinder aus den Städten wurde daraufhin eine Sondereinheit gegründet, die die verhungernden Kinder auf der Straße einsammelte und außerhalb der Städte auf freiem Feld aussetzten.

Aber die meisten der Opfer starben langsam, zu Hause. Sonderkommandos des NKWD durchsuchten die Häuser der Menschen, um die leblosen Körper einzusammeln. Für jeden toten Körper, den sie ablieferten, bekamen sie 100 g Brot.

So wurden auch Menschen mitgenommen, die noch lebten und lebendig zusammen mit den Toten in Massengräbern verscharrt wurden.

Massengrab
Massengrab
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Anmerkungen

1 Quellen:
Viktor Timtschenko: Ukraine: Einblicke in den neuen Osten Europas, Christoph Links Verlag, Berlin, 2009.
Stéphane Courtois und Co-Autoren: Die Große Hungersnot in: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror“, Piper Verlag, München, 2004, S. 178 – 188;
Gerhard Simon: Der Holodomor als Völkermord. Tatsachen und Kontroversen. Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion Referat bei der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“, Mannheim 24. November 2007;
Der Dokumentarfilm "The Soviet Story" unter der Regie von Edvīns Šnore, 2008;

2 Der NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) wurde 1934 als sowjetisches Unionsministerium gebildet, dem als wichtigstes Ressort die GPU (politische Geheimpolizei der Sowjetunion) eingegliedert wurde. Zuständig v. a. für politische Überwachung, Nachrichtendienst, politische Strafjustiz, Verwaltung der Straf- und Verbannungslager (GULag) und Grenzschutz war er das Instrument des stalinistischen Terrors zur Zeit der Großen Tschistka (Säuberung).