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Altschwedendorf während der Hungersnot von 19211

Nach der Vertreibung der "Weißen"2 mussten die Bauern fast ihre gesamte Ernte des Jahres 1920 abliefern.
Beschaffungskommandos nahmen Geiseln, damit die Bauern auch ihr möglicherweise verstecktes Getreide herausgaben.

Getreideeintreibung
Getreideeintreibung

Das hatte zur Folge, dass die Bauern im Herbst wenig Winterweizen aussäen konnten, was zusammen mit der Dürre des Jahres 1921 zu einer noch nie dagewesenen Hungerkatastrophe führte. Von Januar bis Mai starben 80 Menschen in Altschwedendorf an Hunger oder an durch Mangelernährung hervorgerufene Erkrankungen.

Christoffer Thomasson Hoas
Christoffer Thomasson Hoas

Pastor Kristoffer Hoas schrieb an den schwedischen Erzbischof Nathan Söderblom in Uppsala eine Postkarte. Der ganze Text bestand aus Hinweisen auf verschiedene Kapitel und Verse der Bibel, darunter auch Lukas 8, 24 (Meister, Meister, wir verderben!).


 „Nachdem man die Heilige Schrift zu Rate gzogen hatte, erwies es sich, daß die Postkarte einen Appell erhielt. Diese Bitte, verborgen unter dem Code der Bibelzitate, machte einen tiefen Eindruck auf den Erzbischof. Um der russischen Zensur zu entgehen, mußten die Schweden ihre Not in so verkappter erfragen....“

aus: Schwedische Rückwanderer aus Rußland in: Rigasche Rundschau Nr. 195 vom 30. August 1929, S. 9;

Der Hilferuf wurde in Schweden erhört. Das schwedische Rote Kreuz und andere gemeinnützige Gesellschaften sammelten Geld für Medizin, Nahrungsmittel, Decken und Kleidung.

Am ersten Weihnachtstag 1921 kam ein Vertreter des Roten Kreuzes, Gösta Cedergren, mit drei Eisenbahnwaggons voll mit Vorräten.

Hungersnot

Etwa 10 Personen waren in den Tagen bevor Cedergren angekommen war, verhungert.
Im Februar 1922 kamen zwei weitere Wagen mit Roggen und ein kleiner Geldbetrag für das ganze Dorf. Aber im März waren die Lagerräume wieder leer und der Hunger schien wieder nahe zu sein.

In den deutschen Dörfern, wo die Hilfe nicht ausgereicht hatte, starben täglich ungefähr 10 Menschen.
An Ostern 1922 war die Situation wirklich schlecht. Typhus und Ruhr waren an der Tagesordnung und einige ältere alleinstehende Personen starben an Hunger.
Von Klosterdorf gibt es einen Bericht mit den Namen von 86 Personen, die von Januar bis Oktober 1922 an Hunger starben.
In Mühlhausendorf verhungerten 11 Personen. Es gibt keine Zahlen aus Schlangendorf. Allerdings starben in der Stadt Cherson von Mitte Januar bis Mitte April 6.479 Menschen an Hunger.

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Wilhelm Sarwe
Wilhelm Sarwe

 

Am frühen Morgen des Ostersonntags versammelten sich die Bewohner von Altschwedendorf nach alter Tradition auf dem Friedhof, als sie plötzlich einen wundervollen Anblick hatten. Ein weißer Dampfer mit der schwedischen Fahne und der Flagge des Roten Kreuzes am Bug kam langsam flussaufwärts. Nach einem kurzen Moment des Dankes eilten alle hinunter zum Fluss. Der Missionar Wilhelm Sarwe von Degerfors in Schweden, der vom Roten Kreuz ausgewählt worden war, um die Expedition zu führen, war mit der notwendigen Hilfe angekommen. Altschwedendorf war gerettet!

Im Sommer kam eine neue Hilfsexpedition und am 5. Dezember kam die größte an. Diesmal waren zwei Vertreter des schwedischen Roten Kreuzes dabei, Gösta Cedergren und ihr Schwager Walter Hebbel. Sie sollten so lange im Dorf bleiben, bis die Bewohner sich alle selbst versorgen konnten.

Wilhelm Sarve in Altschwedendorf
Wilhelm Sarve in Altschwedendorf
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Anmerkungen

1 Jörgen Hedman: Gammalsvenskby: The True Story of the Swedish Settlement in the Ukraine, Stockholm, 2000, S. 27;

2 Die Weißen (auch: Weiße Armee, Weiße Garde) waren die Truppen der russischen Weißen Bewegung, die im Russischen Bürgerkrieg (1918-1922) gegen die Bolschewiki kämpften und deren Hauptkontrahent waren.
Monarchisten, die das Zarentum wiedererrichten wollten aber auch gemäßigte Sozialisten und Republikaner, die gegen jegliches bolschewistisches Gedankengut waren, vereinigten sich in der weißen Bewegung. Sie alle einte als Grundsatz ihres Handelns: „Russland – vereint, mächtig und unteilbar“.