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Neudanzig1, die Tochterkolonie von Danzig

Altdanzig und Neudanzig

Wegen Landmangel er-hielten 33 Familien aus der Kolonie Danzig 1839 auf Verfügung des Herrn Generals Iwan von Inzow, Hauptfürsorger der Kolo-nisten Südrusslands von 1818 bis 1841, 30 km nordöstlich von Nikolajew direkt am Ingul im Rayon Baschtanka Land für 60 Familien in der Steppe zugeteilt.

Die neue Kolonie wurde Neudanzig (auch: Boro-datschewo) genannt, worauf die alte Kolonie auf obrigkeitlichen Befehl den Namen Altdanzig erhielt.

Die meisten der Kolonisten waren junge Leute, die in ihrer früheren Heimat kein Land besessen hatten und so waren sie auch fast alle nicht besonders gut bemittelt. Viele von ihnen brachten den Hang zu Gelagen in die neue Kolonie mit, wo sie das Lasterleben in erhöhtem Grad fortführten. Jede Sorge für die Zukunft wurde in den Wind geschlagen. Sogar in der Erntezeit lebte man Tage und Wochen in Saus und Braus. Besonders wüst ging es an den Sonntagen her. Die Ermahnungen einiger Bessergesinnten ließ man ungehört verhallen. Es schien, als wollte sich kein Mittel finden, um dem Verderben Einhalt zu gebieten.

1841 wurden mehrere Familien aus der katholischen Kolonie München2 (heute: Porichchya) im Beresaner Bezirk auf eigenen Wunsch in Neudanzig angesiedelt. Sie waren zum lutherischen Glauben übergetreten und wollten unter Glaubensgenossen leben. Der anfängliche Protest der Neuangekommenen gegen das Lasterleben hatte keinen Erfolg, weil manche sich selbst daran beteiligten.

München im Beresaner Bezirk um 1940
München im Beresaner Bezirk um 1940

Durch die mangelhafte Bearbeitung des Landes und durch Missernten gerieten viele der Kolonisten in Not und Bedrängnis. Viele suchten ihre Zuflucht im Geld ausleihen oder versuchten ihre Höfe zu verkaufen, was damals schwer war und die gemachten Schulden übten auf viele auf lange Zeit einen empfindlichen Druck aus.

Im Herbst 1842 kamen weitere sieben Familien aus Rohrbach3 (heute: Novosvitlivka) dazu. Es waren teils Landlose, teils hatten sie in ihrem Heimatort ihre Höfe verkauft, um sich in Neudanzig neue zu kaufen.

Bibelstunde
Bibelstunde

Da die neuen Siedler sich nicht an den Gelagen beteiligen wollten, weigerte sich die Gemeinde, sie anzunehmen, was dazu führte, dass Staatsrat Eugen von Hahn, Hauptfürsorger der Kolonisten Südrusslands von 1841 bis 1849, den Befehl gab, sie zu akzeptieren, was ein Verstoß der gesetzlichen Bestimmungen vom 18. Oktober 1832 bedeutete. Dieses Gesetz verordnete, dass die Aufnahme neuer Kolonisten von der Zustimmung der betreffenden Dorfgemeinde abhängig gemacht werden müsse. (vgl. II PSZ Bd. 7, Nr. 5684)

Mit der Zeit übertrug sich auf viele Kolonisten von Neudanzig die von den Rohrbacher Kolonisten mitgebrachten pietistische 'Erbauungsstunden'4, einfach Stunden (Schtunda) genannt. Viele änderten ihre Denk- und Handlungsweise vollkommen. Statt der Schenke wurde das Gotteshaus besucht, statt zu fluchen wurde die Bibel oder ein christliches Buch zur Hand genommen. Der Wohlstand hob sich zusehends. Die Erdhütten verschwanden und an ihre Stelle traten aus Stein gebaute, hübsche Häuser. Es wurden Bäume gepflanzt und trotz mancher Heimsuchungen, wie Missernten und Heuschrecken (im Jahre 1845) kam es zu einem gewissen Wohlstand.

In den 1860er Jahren fasste der Baptismus in Neurussland Fuß. Der Baptismus hatte unter den 'Stundenhaltern'5 der Kolonien Alt- und Neudanzig besonders große Erfolge. Alt- und Neudanzig wurden neben Rohrbach zuerst ein Zentrum der Stundisten und dann der Baptisten.

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Anmerkungen

1 Margarete Woltner: Die Gemeindeberichte von 1848 der deutschen Siedlungen am Schwarzen Meer, S. Hirzel Verlag, Leipzig, 1941, S. 194;

2 Die Mutterkolonie katholische München wurde 1810 von 57 Familien aus Baden, der Rheinpfalz und dem Elsass am Steppenfluss Beresan gegründet. Die Kolonisten gelangten über Böhmen, Schlesien, Mähren und Galizien bis zur Grenzstation Radzwillo. Von dort ging es über Odessa ins eigentliche Siedlungsgebiet. 1816 lebten in München 48 Familien.
Die Kolonie gehörte ursprünglich zum Groß-Liebentaler Gebiet und ab 1813, zusammen mit den Kolonien Karlsruhe, Katharinental, Landau, Johannestal, Rastatt, Rohrbach, Speyer, Sulz, Waterloo und Worms, zum Beresaner Gebiet, das eine Landfläche von 55.597 Desjatinen umfasste und seinen Verwaltungssitz in Landau hatte.
Die erste Kirche wurde 1816 erbaut, die 1872 durch einen größeren Neubau ersetzt wurde. Zwischen 1810 und 1890 bildeten München und Rastatt gemeinsam eine Pfarrei des Dekanats Nikolajew.
1890 wurde die Pfarrei München gegründet, zu der die Chutore Dworjanka, Nowoselewka, Karlewka, Domanewka, Bogdanowka, Nowonikolajewka, Lerisk, Ljuboalexandrowka, Christorofka, Kapitanowka, Gardegai, Klundowo, Slepucha, Wolkow, Kawkas, Grisa, Selingera, Kratowka und Heck gehörten. 1914 gehörten insgesamt 3.550 Eingepfarrte zum Kirchspiel, 1919 waren es 1.737.
Die Kolonie litt unter großem Wassermangel und wurde mehrmals von Viehseuchen und Naturkatastrophen heimgesucht. So fiel 1825 fast der gesamte Viehbestand einer Seuche zum Opfer; ein völliger Ertragsausfall brachte die Siedler 1834 fast an den Bettelstab; 1838 war München von einem Erdbeben betroffen.
Von 1941 bis 1944 gehörte der Beresaner Bezirk zum rumänischen Besatzungsgebiet Transnistrien und im Frühjahr 1944 wurde die Bevölkerung des Ortes von den SS-Dienststellen als Administrativumsiedler nach Polen in den Warthegau umgesiedelt.

3 Die evangelische Mutterkolonie Rorhbach wurde 1809 von Familien sus Baden (33), Württemberg (4), Preußisch-Polen (56) und dem Elsass in einem Nebental des Tilgul gegründet. 1813 kamen weitere vier Familien aus Württemberg und 22 aus Preußisch-Polen hinzu. Nach der Revisionsliste von 1816 lebten in der Kolonie 130 Familien. 1817 folgten weitere 16 Familien aus Baden. Dieser Zuwanderung stand eine ständige Abwanderung in andere Kolonien entgegen. Diese Abzugsbewegung, deren Ursache permanenter Landmangel war, hat das Anwachsen der Einwohnerzahl letztendlich aber nicht verhindern können.
Rohrbach gehörte ursprünglich zum Groß-Liebentaler Gebiet und ab 1813, zusammen mit den Kolonien Karlsruhe, Katharinental, Landau, München, Rastatt, Johannestal, Speyer, Sulz, Waterloo und Worms zum Beresaner Gebiet.
1818 zogen zehn Familien in den Kaukasus, 1823 11 Familien nach Odessa und in Nachbardörfer, 1823 zehn Familien nach Besarabien und sieben nach Neudanzig und 1826 11 Familien nach Johannestal. Vier Familien zogen nach Deutschland zurück. Im Jahr 1873 wanderten 400 Personen aus Rohrbach und Worms in die USA aus. Neben dem Ge- meindeland kaufte die Kolonie noch 1.640 Desjatinen, weitere 9.000 Desjatinen wurden gepachtet.
1912 gab es ein Bethaus und zwei Volksschulen mit sieben Lehrern und 465 Schülern sowie einen Konsumverein/-laden. Die medizinische Versorgung übernahm ein Feldscher.
Von 1941 bis 1944 gehörte der Beresaner Bezirk zum rumänischen Besatzungsgebiet Transnistrien und im Frühjahr 1944 wurde die Bevölkerung des Ortes von den SS-Dienststellen als Administrativumsiedler nach Polen in den Warthegau umgesiedelt.

4Die Erbauungsstunden, einfach Stunden (Schtunda) genannt, wurden 1829 vom Pastor Johannes Bonekemper in der evangelisch-reformierten Gemeinde Rohrbach im Beresaner Siedlungsgebiet eingeführt, aus denen sich eine Bewegung entwickelte, die durch biblizistischen Pietismus, Betonung der persönlichen Bekehrung, Ablehnung kirchlicher Ämter und ethischen Rigorismus gekennzeichnet war und die trotz Verfolgung (bis 1905) große Ausmaße annahm. Ihre Anhänger nannte man Stundisten und 1906 zählte sie rund 1/2 Mill. Anhänger in Südrussland und im Dneprgebiet.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts verschmolz die Stundenbewegung mehr und mehr mit der evangelisch-baptistischen Bewegung in Russland. 1909 wurde unter Leitung von Iwan Prochanow (*1869, †1935) der 'Bund russischer Evangeliumschristen' in Sankt Petersburg gegründet, der sich 1944 mit den Baptisten vereinigte.

5 Stundisten = Anhänger einer um 1830 in der deutsch-reformierten Gemeinde Rohrbach (Gebiet Odessa, Cherson, Ukraine) entstandenen freikirchlichen protestantischen Gemeinschaft, benannt nach den der Erweckung dienenden Erbauungsstunden (einfach 'Stunden' genannt, im Sinne von Betstunde) des Pfarrers Johannes Bonekempers (*1796, +1857, Pastor in Rohrbach von 1824-1848), aus denen sich eine Bewegung entwickelte, die durch biblizistischen Pietismus, Betonung der persönlichen Bekehrung, Ablehnung kirchlicher Ämter und ethischen Rigorismus gekennzeichnet war und die trotz Verfolgung in Südrußland auf etwa 2 Millionen anwuchs.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts verschmolz sie mehr und mehr mit der evangelisch-baptistischen Bewegung in Russland und wurde bis zum Toleranzedikt 1905 von der Regierung verfolgt. 1909 wurde unter Leitung von Iwan Prochanow (*1869, +1935) der 'Bund russischer Evangeliumschristen' in Sankt Petersburg gegründet, der sich 1944 mit den Baptisten vereinigte.