Wie wurde nun eigentlich die Endzeit bestimmt?

(Teil 2 von 2)

Johann Konrad Dippel
Johann Konrad Dippel

wie die pietistische Er-neuerungsbewegung im All-gemeinen, so war auch diese sich steigernde Endzeit-erwartung ein allgemeines Phänomen des europäischen Protes-tantismus.

Der englische Geistliche John Thilord z.B. sagte das Ende der Welt für 1682 voraus; die englische Sekte der Philadelphischen Gesellschaft unter der christlichen Mystikerin Jane Leade erwartete die Wiederkunft Christi zwischen 1697 und 1700 und der radikale Pietist Johann Konrad Dippel1 (1673-1734) datierte den Beginn eines neuen aureum saeculum, dem Goldenen Zeitalter2, auf das Jahr 1700.

 

In den Jahren 1699 und 1700 zogen nun zahlreiche Pietisten, die aus ihren offiziellen Laufbahnen geschieden waren, als Bußprediger durch das Land. Viele von ihnen trafen sich in den Territorien kleiner, zum radikalen Pietismus konvertierter Adeliger wie z.B. in Laubach in Hessen oder in Berleburg, der Residenz des Grafen Casimir Sayn-Wittgenstein-Berleburg (Rheinland-Pfalz). Dort lebte man in akuter Erwartung des Milleniums, feierte an Ostern 1700 tagelange Gottesdienste, sogenannte Liebesmahlfeiern (Agape)3 und befand sich gewissermaßen bereits in einem Zustand entrückter Euphorie.

 

Philipp Jacob Spener
Philipp Jacob Spener

Spener z.B. gab in seiner Neujahrspredigt am 1. Januar 1701, die ganz auf das neue Jahrhundert gehalten wurde, einen kirchen- und heils-geschichtlichen Überblick. Er benutzte nicht das System der vier Welt-monarchien, sondern die neue Jahrhundertrechnung. Er habe heraus-gefunden, dass es alle dreihundert Jahre in der Geschichte der Kirche zu einem folgenschweren Einschnitt gekommen sei. Wenn man in diesen Dreihundert-jahresschritten durch die Geschichte geht, so bildet die Jahrhundertwende 1701 den Beginn des letzten Jahrhunderts der 6. Einheit (300, 600, 900, 1200, 1500, 1800).

 

Spener deutete das beginnende 18. Jahrhundert daher auch unter solchen Endzeitgesichtspunkten:

„Nun ist das achtzehnte itzo eingetreten / als das letzte dieser sechsten dreyhundert Jahr. Was wird’s wohl vor ein Jahrhundert seyn?“

aus: Philipp Jakob Spener: Lauterkeit des Evangelischen Christhentums in auserlesenen Predigten, Halle 1706;

August Hermann Francke
August Hermann Francke

Für Spener waren die Zeichen der Endzeit deutlich, die vor allem mit dem angeblichen Verfall der evangelischen Kirche zusammenhing, verschob aber den Horizont der Endzeitberechnung um weitere hundert Jahre und zwar auf die Jahrhundertwende 1800. Für ihn war die Aussicht auf die Wiederkunft Christi in absehbarer Zeit ein Anreiz zur Reformierung der Kirche. Es ging um eine “Weltveränderung durch Menschenver-änderung“, was sich dann auch auf vielen Gebieten auswirkte: in entstehenden Waisenhäusern, auf dem Gebiet der Diakonie, der Pädagogik (Franke in Halle), auf dem Gebiet der Publizistik, der inneren und äußeren Mission (religiöse Erneuerung und Sozialarbeit im eigenen Volk und entsandte Person[engruppe] mit besonderem Auftrag) usw.

Mit dieser Zielstellung handelte sich Spener allerdings die Ablehnung der lutherischen Orthodoxie ein und es entwickelte sich eine umfangreiche antipietistische Polemik. Angriffspunkte waren u. a. Speners Lehre von der Wiedergeburt und der “Hoffnung besserer Zeiten“, die ihm als Chiliasmus ausgelegt wurde.

Bibelstunde
Bibelstunde

 

 

Die meisten evangelischen Landeskirchen lehnten den Pietismus ab und verboten die collegia pietatis (Kreise der Frömmigkeit).

Die vorwiegend auf Speners Initiative erwachsene pietistische Bewegung war aber keineswegs einheitlich, sie nahm vielmehr zahlreiche Einflüsse auf, so dass ein weites Spektrum entstand, indem es auch unterschiedliche Einstellungen zu den bestehenden Kirchen gab.

 

 

Frankesche Stiftungen um 1750
Frankesche Stiftungen um 1750

Zu einem Zentrum des Pietismus wurden ab 1694 die vom Theologen und Pädagogen A. H. Francke gegründeten “Franckeschen Stiftungen4“ (Erziehungsanstalten) in Halle a. d. Saale; der bedeutendste Zögling dieser Anstalten, Graf Nikolaus von Zinzendorf (1700-1760), lutherisch-pietistischer Theologe, siedelte 1722 auf seinem Besitz in Herrnhut bei Görlitz versprengte protestantische Glaubens-flüchtlinge aus Mähren an.

1726 entstand dort mit der Herrnhuter Brüdergemeine5 (im Sinne von gemeine, also einfache Leute) eine eigene Kirchengemeinschaft, die vor allem eine rege missionarische Tätigkeit entfaltete.

 

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1 Johann Konrad Dippel, religiöser Schwärmer, (*1673 auf Frankenstein bei Darmstadt in Hessen, † 1734 auf Schloss Wittgenstein bei Berleburgin Nordrhein-Westfalen), wuchs in einer lutherisch gesinnten Pfarrfamilie auf und wurde in seiner Schulzeit vom Geist der lutherischen Orthodoxie geprägt. Ab der 1691 beginnenden Studienzeit konnte er sich dem Einfluss des Pietismus nicht mehr entziehen und wurde ein strikter Gegner des Luthertums; im Gegensatz zur Rechtfertigungslehre, verfocht er ein glühende Mystik.
Der Wende zum Pietismus folgte bald eine Flut immer radikalerer Veröffentlichungen, die in der theologisch interessierten Öffentlichkeit weithin für Entrüstung sorgten. Wegen Verspottung theologischer Dogmen wurde er verfolgt und dem über ihn verhängten kirchlichen Prozess, dem Hausarrest, dem Veröffentlichungsverbot und weiteren Strafen entzog sich Dippel durch Flucht aus der heimatlichen Landgrafschaft Hessen-Darmstadt.

2 Goldenes Zeitalter = sagenhaftes Zeitalter; das erste und schönste der vier (oder fünf) Zeitalter des Menschendaseins, in dem die Erde nach der Mythe vieler Völker allen Bedarf in Fülle hergab und die Menschen ein unschuldiges arbeits- und sorgloses Leben führten. Die Vorstellungen davon hängen historisch mit der Erinnerung an den Stand der Unschuld der Menschheit, an das Leben im Paradies zusammen, psychologisch aber mit dem zu jeder Zeit herrschenden Gefühl der Unangemessenheit der wirklichen Lebenszustände und mit dem Drang des Menschen nach Erlösung und Vervollkommnung. Das goldene, silberne, eherne und eiserne Zeitalter der griechischen und römischen Dichter (Hesiod, Aratos, Ovid, Vergil), die Zeitalter der Inder, die Sehnsucht der Juden nach dem Messiasreich, die Träume der christlichen Chiliasten sind so bekannt als die Sagen der nordamerikanischen Indianer u.a. Völker.

3 Agape bezeichnet sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche ein gemeinsames Mahl nach besonderen Gottesdiensten, z.B zu Ostern oder Pfingsten und war das abendliche Mahl der christlichen Gemeinde der ersten Jahrhunderte, ursprünglich wohl mit der Feier des Abendmahls verbunden.

4 Franckesche Stiftungen = von A. H. Francke in Glaucha bei Halle (Saale) gegründete Erziehungsanstalten. 1698 mit kurfürstlichem Privileg ausgestattet, umfassten die Anstalten die Armenschule mit Waisenhaus (gegründet 1695), das Pädagogium mit Internat für adlige Schüler (1696) und das Gynaeceum (die höhere Mädchenschule, 1698). Angegliedert waren die Buchhandlung (1698), Apotheke (1698), Buchdruckerei (1702), die Ostindische Missionsgesellschaft (1705) und die Cansteinsche Bibelanstalt (1710). Durch die Franckeschen Stiftungen wurde Halle zu einem Zentrum des Pietismus in Deutschland und 1946 (nach dem 2. Weltkrieg, als Halle zur DDR gehörte) aufgehoben, erlangten die Franckeschen Stiftungen 1992 ihren Status als öffentlich-rechtliche Stiftung zurück und unterhalten heute pädagogische, soziale, wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen. 1995 wurde das historische Waisenhaus mit Dauerausstellungen zur Geschichte der Stiftungen eröffnet.

5 Herrnhuter Brüdergemeine = aus dem Pietismus hervorgegangene evangelische Freikirche, die 1722 unter dem Schutz des Grafen Zinzendorf in der Oberlausitz als Kolonie Herrnhut begründet wurde.