Ignaz Lindls Wirkung

Bibelstunde
Bibelstunde

auf der württem-bergischen Seite der Donau fand der katholische Prie-ster Ignaz Lindl unter den pietistischen Pri-vatversammlungen (Col-legia Pietatis, Kon-ventikeln, Bibelstunden, einfach "Stunden" ge-nannt) regen Zuspruch. Seine einfache Sprache hinterließ bei den Menschen den Eindruck, verstanden zu haben und verstanden worden zu sein.

Karl Wolfgang Weber: Herrnhuter Landschaft mit dem Gottesacker
Karl Wolfgang Weber:
Herrnhuter Landschaft
mit dem Gottesacker

Einen Eindruck von der Anziehungskraft, die Lindl auch im Württembergischen ausgeübt hatte, ver-mittelt der Bericht des Herrnhuter1 Rei-sepredigers, Johann Daniel Suhl, der im Mai 1819 auf einer Besuchsreise durch das östliche Württemberg einen Gottesdienst Lindls in Gundremmingen besuchte.

Kirchenbesuch
Kirchgang

Suhl (1759-1838) und seine Frau Maria Magdalena (1771-1846) machten sich am Himmel-fahrtstag früh um vier Uhr auf den Weg, wo sie "keinen Wegweiser gebraucht hätten, der ganze Weg vor- und rückwärts war voller Menschen wo keiner mit dem andern viel redete, sondern eilte der Donau zu, um bald übergesetzt zu werden und Platz in der Kirche zu finden."

In Gundremmingen trafen sie Lindl noch vor der Predigt an, wo er sie bat, für seine ehemaligen Gemeindeglieder in Baindlkirch zu beten, die erheblichen Verfolgungen ausgesetzt seien. Die Predigt hinterließ bei Suhl den Eindruck, als habe Luther von einer katholischen Kanzel gepredigt.

Lindls Predigten, vor mehreren Tausend Menschen, richteten sich sowohl an Katholiken als auch an Protestanten. Nicht mehr die Konfession war entscheidend, sondern der reine Christusglaube.

evangelischer Pfarrer
evangelischer Pfarrer

Auf der württembergischen Seite der Donau sprach Suhl an den folgenden Tagen mit einigen evangelischen Pfarrern, die unterschiedlich auf die durch Lindl ausgelöste Bewegung reagierten. Einige beschwerten sich über den Zustrom zu Lindl, der für Unruhe in den Gemeinden sorgte.

So warf der Asselfinger Pfarrer Miller am 24. Mai 1819 seinen erweckten Gemeindegliedern vor "Zeit zu haben in das weit entfernte Gundremmingen gehen zu können, um einen katholischen Pfarrer zu hören, in seine Betstunden kämen sie aber nicht."

Herrnhut Universitätsarchiv (UA), R.19 B.I.7, Nr.82

 

Durch die von Lindl verursachte Erregung war er aber dem Misstrauen der konfessionellen Autoritäten ausgesetzt. Staatliche und kirchliche Instanzen versuchten, den Zustrom zu Lindl einzudämmen, was dieser als endzeitliche Verfolgung deutete und eigentlich nur durch Auswanderung an einen Bergungsort zu entkommen sei.

Schon 1816 schrieb Lindl folgendes an Christian Friedrich Spittler, dem Sekretär der Basler Christentumsgesellschaft2:

"In Hinsicht unsrer aller, die es rein mit Christo halten, kann bald eine ernsthafte Verfolgung kommen. ...... Aber das thut Brüder, im Falle der Ausschließung aus der römischen Kirche (dem Geiste nach sind wir schon lange ausgegangen) bethet zuvor, und dann verschaffet uns Platz nach Russland."

Christian Friedrich Spittler
Christian Friedrich Spittler

Erneut drohte Lindl die Entfernung von seiner Pfarrstelle. Aus diesem Grund intensivierte er seine Planung für eine Auswanderung nach Russland.

In einem weiteren Brief an Spittler im Dezember 1818 wird die Stimmung deutlich, in der Lindl und seine Anhänger lebten:

"Die Erweckungen an den Ufern der Donau sind groß. Weil die Leute wissen, dass ich fortkomme, so eilen eine Menge Menschen alle Sonntage nach Gundremmingen in die Predigt....... Ich weiß nicht, bey den Protestanten, die Haufenweise aus dem benachbarten Württemberg in meine Predigt kommen, die Bewegung größer, oder bey den Katholiken. Ein gewaltiges Feuer brennt, das der Teufel nimmer auslöschen kann. Katholische und protestantische Herrschaften und Pfarrer verbiethen den Ihrigen nach Gundremmingen zu wallfahrten, aber desto Mehrere kommen. Der Sturm schwebt über unsern Häuptern; wenn ich nicht bald gehe, verschlingt er mich in seinem Wirbel. Indessen halte ich so lange aus, als ich immer kann. Vielleicht aber nur vielleicht kann ich das Evangelische Wesen noch treiben bis zum neuen Jahr."

aus: StA Basel, PA 653, Abt. V: Brief von Lindl an Spittler, Gundremmingen, 12. Dezember 1818;

 

Sankt Petersburg
Sankt Petersburg

Im Oktober 1819 war es schließlich soweit. Lindl folgte voller chiliastisch-apokalyptischer Erwartungen einem Ruf des schwärmerisch3-herzensfrommen Zaren Alexander I. die Pfarrstelle an der katholischen Malteserkirche in St. Petersburg zu übernehmen, um von dort aus die Auswanderung bayerischer und württembergischer Kolonisten nach Russland vorzubereiten.

Zu Lindls Abschiedspredigt in Gundremmingen, am 17. Oktober 1819, kamen auch zwischen 500 und 1.000 Besucher aus Württemberg, darunter auch einige mit Pferdewagen aus Ulm, Göppingen, Schorndorf und Stuttgart.

In seiner emotionsgeladenen Abschiedsrede sagte er die "zweite Ankunft Christi" voraus, "in seiner Herrlichkeit, zu stiften auf Erden ein Reich der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit".

aus: Petri Hans: Ignaz Lindl und die deutsche Bauernkolonie Sarata in Bessarabien, in: Südostdeutsches Archiv 8, 1956, S.78;

 

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1 Herrnhuter Brüdergemeine = aus dem Pietismus hervorgegangene evangelische Freikirche, die 1722 unter dem Schutz des Grafen Zinzendorf in der Oberlausitz als Kolonie Herrnhut begründet wurde.

2 Deutsche Christentumsgesellschaft = von Johann August Urlsperger (* 1728, † 1806) 1780 gegründete Vereinigung von Christen zur Verbreitung der reinen biblischen Wahrheit in Wort und Tat; heute in Verbindung mit der Baseler Missionsgesellschaft.

3 Schwärmer = abfällige Bezeichnung für radikale Gruppen (Spiritualisten) in der Reformationszeit. Luther bezeichnete alle, die nicht mit seinem Verständnis der Bibel und seiner Lehre übereinstimmten, als "Schwärmer" oder "Schwarmgeister".
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung Anhänger reformatorischer Bewegungen als "Schwärmer" bezeichnet, also diejenigen die sich als unmittelbar vom Heiligen Geist geführt verstanden, den Anspruch erhoben, die reformatorischen Glaubenserkenntnis radikal zu verwirklichen und diesen "göttlichen Auftrag" als Offenbarungsquelle neben bzw. über die Bibel stellten und den von ihnen abgelehnten Strukturen und Formen der Kirche und des Gottesdienstes eigene, "dem Heiligen Geist gemäße" Formen entgegensetzen.